Zwischen Stigma und Tabu

Fetisch, Rollenspiele oder ausgefallene Sexpraktiken: Lust ist vielfältig, aber oft ein Tabu. Eine, die sich damit auskennt, ist Sexarbeiterin Luisa.

«Du Schwein, was hast du für perverse Gedanken!» Ein Satz, der verletzt, der schockiert. Vor allem dann, wenn man zuvor der*dem Partner*in gegenüber intime Wünsche geäussert hat. «Was ist mit mir falsch?», fragt man sich dann, beginnt seine Sehnsüchte zu unterdrücken – doch damit geht es einem oft nicht gut.

Den besagten Satz bekam ein Mann von seiner Ehefrau zu hören, als er sie fragte, ob sie ihm Spiegeleier zubereiten würde – nackt. Sie sei derart empört gewesen, dass er sich schuldig fühlte, überhaupt solche Gedanken zu haben. «Die Sexarbeiterin, die mir diese Geschichte erzählte, meinte, sie hätte an diesem Tag ihr Geld sehr einfach verdient», sagt Grazia Aurora.Als Mitarbeiterin der Beratungsstelle Isla Victoria, die von der Stadtmission Zürich betrieben wird, besucht sie regelmässig Sexarbeiter*innen in Winterthur sowie im Rest des Kantons Zürich. «Die Sexarbeiterin kaufte dann an der nächsten Tankstelle Eier, zog sich bis auf die High Heels aus und schlug die Eier in die Pfanne. Mehr hätte dieser Mann nicht gewollt.»

Über 160 Etablissements

Über erotische Fantasien und sexuelle Wünsche spricht man nur selten – in besonderen Situationen, aber kaum im Alltäglichen. Dabei sei die Lust auf körperliche Nähe, auf sexuelle Befriedigung etwas, das jede*r verspürt, gibt Grazia Aurora zu bedenken. «Viele verteufeln das Sexgewerbe, anstatt sich zu fragen, woher das Bedürfnis für solche Dienstleistungen kommt.» Im Kanton Zürich gibt es über 160 Etablissements – die Stadt Zürich nicht mit einberechnet. Dazu zählen Clubs (bis zu 40 Sexarbeiter*innen), Salons (2 bis 7 Mitarbeiter*innen) und Wohnungen, in denen nur eine Person arbeitet. An diesen Orten kommt Grazia Aurora als psychosoziale Beraterin für Gesundheit und Sexualität mit den Sexarbeiter*innen ins Gespräch. Nicht in dieser Zahl inbegriffen sind Escort-Dienstleistungen und Angebote von Frauen* und Männern*, die Sexarbeit in einem Hotel ausüben.

«Winterthur ist sehr ruhig und überschaubar. Es gibt keinen Strassenstrich, dafür aber ein paar Clubs und Salons», sagt die Beraterin. Mit dem Red House an der Steinberggasse ging im Frühling 2018 das letzte Cabaret zu. In Winterthur findet das Gewerbe ausser in kleinen und mittelgrossen Betrieben vor allem diskret in Wohnungen statt.

In einer dieser Wohnungen arbeitet Luisa**. Ihre Kunden melden sich auf Inserate, die sie ein bis zwei Mal in der Woche auf diverse Online-Plattformen stellt. Anders als in einem Club beziehungsweise einem «Laufhaus» kann sie selbst darüber entscheiden, welche Kunden und wie viele sie pro Tag treffen will. Zudem hat sie die Freiheit, Termine jederzeit abzusagen, falls sie sich nicht wohl fühlt. Die Winterthurerin arbeitet tagsüber und vereinbart aus Prinzip nicht mehr als drei Termine, selbst wenn es mehr Anfragen gibt. «Ich arbeite mit Fetischen. Das heisst, ich mache Rollenspiele, bei denen es um feminine Dominanz geht. Das sind oft längere Sessions zwischen einer und vier Stunden», sagt Luisa. 280 Franken kostet eine Stunde bei ihr. Darin inklusiv ist das Benutzen der Dusche. «Mit vielen meiner Kunden hatte ich allerdings noch nie Geschlechtsverkehr im eigentlichen Sinne. Auch BDSM-Handlungen mache ich nicht.»

«Ich hatte Lust auf den Nervenkitzel»

Luisa ist eine aufgestellte junge Frau, sie geniert sich nicht, über ihren Job zu sprechen: «Die Sexarbeit ist eine Leidenschaft, ein Beruf, der mir sehr viel gibt. Ich konnte mir schon immer vorstellen, diese Arbeit zu machen.» Ihren ersten Freier hat sie mit 18 getroffen. «Es war Neugierde, ich hatte Lust auf den Nervenkitzel», sagt sie und lächelt. «Ich erinnere mich vor allem an das Gefühl danach: Ich war stolz und froh.» Anfangs übte sie die Arbeit neben ihrer Anstellung als Pflegefachfrau aus, mittlerweile arbeitet sie nur noch als Selbstständigerwerbende. «Ich bin noch immer jedes Mal aufgeregt – auch bei Stammkunden.» Bereut habe sie ihre Berufswahl nie, das liege aber auch daran, dass sie immer ein gutes Verhältnis zu ihrem Job behalten hatte: «Ich habe selbst entschieden, dass ich in diesem Bereich arbeiten will.» Dadurch, dass die Kunden Luisa gegenüber devot eingestellt sind, hat sie ein anderes Klientel als die Sexarbeiter*innen, die in Clubs oder Bordellen arbeiten. Erfahrungen mit Männern, die sehr dominant auftreten und daraus ihre Lust gewinnen, hat sie bisher nicht gemacht.

Wie bei jedem Job hat sie an manchen Tagen weniger Lust und müsse sich überwinden. «Ich biete die Art von Service nicht an, weil ich es persönlich ‹geil› finde, sondern weil ich es kann. Ich schätze meine Kunden sehr und ich will, dass es ihnen gut geht. Sie begeben sich bei mir in Situationen, die sehr intim sind, intimer als bei anderen Sexarbeiter*innen», sagt Luisa. Ihre persönliche sexuelle Befriedigung sehe allerdings anders aus.

«Es geht um das Gefühl und den Moment»

Stammkunden sind für alle Sexarbeiter*innen wichtig, denn sie ermöglichen ihnen ein sicheres Einkommen. Als Stammkunde gilt, wer mehr als drei Termine wahrgenommen hat, sagt Luisa. Das kann einmal im Jahr, alle zwei Monate oder auch jede Woche sein. Gut die Hälfte der Kunden komme regelmässig, die anderen wollen mal etwas ausprobieren. Manche möchten nur reden. Nicht alle, die sich auf ein Inserat melden, tauchen auch auf. «Diese Art Treffen ist etwas, wofür man in der Stimmung sein muss, es geht um das Gefühl und den Moment. Und gerade diejenigen, die das erste Mal die Dienste einer Sexarbeiterin in Anspruch nehmen, verlässt oft der Mut vor der tatsächlichen Begegnung.» 

Einen bestimmten Typ Freier gäbe es nicht: «Geschäftsmann, Handwerker – nicht alle Männer stehen finanziell gleich gut da. Es ist beeindruckend, wie lange manche auf einen Termin sparen und wie wichtig ihnen das ist», sagt Luisa. Auch Menschen mit einem Handicap melden sich. «Es wird oft vergessen, dass diese Menschen ein grosses Defizit haben, wenn sie ihre eigene Sexualität ausleben möchten – es gibt nur wenig Anlaufstellen, an die sie sich wenden könnten.» 

Obwohl Luisa bisher überwiegend positive Erfahrungen gemacht hat, ist Sicherheit ein grosses Thema. Wenn sie sich mit einem Freier trifft, ist sie nie alleine in der Wohnung. Mit ihrer Arbeitskollegin hat sie Klopfzeichen vereinbart und Pfefferspray versteckt. Zudem hat sie die Nummer der beiden für das Sexgewerbe im Kanton Zürich zuständigen Polizisten. Im Gegensatz zu vielen Sexarbeiter*innen hatte sich Luisa bei der Polizei im Vorfeld über die Arbeit und das Gewerbe in Winterthur informiert: «Ich wollte wissen, welche Tipps und Tricks sie haben, falls ein Kunde im Nachhinein Probleme machen sollte.» Auch bei Grazia Aurora von der Beratungsstelle Isla Victoria hatte sie sich nicht aufgrund einer Notlage gemeldet, sondern um mehr über die Arbeit zu erfahren.

Luisa wünscht sich, dass Sexarbeit einen anderen Stellenwert in der Gesellschaft hätte. In ihrem privaten Umfeld wissen nur wenige Personen Bescheid. Sie wolle nicht von Familie und Freund*innen schubladisiert werden, also behalte sie es lieber für sich. Sexarbeit gilt bei vielen als nicht akzeptabler Beruf. «Auch ihren Ärzt*innen vertrauen sich viele Frauen nicht an – aus Angst», sagt Luisa. Dabei wäre es wichtig, über die Arbeit sprechen zu können, ohne verurteilt zu werden.

Der Kick, etwas Verbotenes zu machen

Nicht nur Luisa, auch Grazia Aurora stellt bei ihrer Beratungstätigkeit fest, dass «Alles-Ohne-Dienstleistungen» immer gefragter werden – vor allem von jüngeren Männern. Sexarbeiter*innen, die sich in einer Notlage befänden, liessen sich eher darauf ein, weil die Freier bereit seien, für «Sex ohne Gummi» mehr zu zahlen. Bei ihren Besuchen in den verschiedenen Etablissements macht sie nicht nur Abstriche, sie spricht die Sexarbeiter*innen auch auf ihre Dienstleistungen an – zum Beispiel dann, wenn diese «Französisch pur mit Aufnahme» anbieten, die Ejakulation also hinunterschlucken. «Bei ungeschütztem Oralsex können Bakterien der Geschlechtskrankheiten Chlamydien und Gonokokken im Rachen bleiben», sagt Grazia Aurora. Vielen sei das nicht bewusst. Als Beraterin klärt sie die Sexarbeiter*innen über solche Themen auf und zeigt ihnen Möglichkeiten auf, sich zu schützen. Sie erklärt, wie Frauen* das Femidom nutzen können oder bietet Hilfestellungen, um mit Anfragen von Kunden umzugehen, denen die Sexarebiter*innen eigentlich nicht nachkommen wollen. Wichtig sei es ihr auch herauszufinden, warum sich jemand nicht durchsetzen könne.

Grazia Aurora erreicht nur einen Bruchteil der im Kanton Zürich tätigen Sexarbeiter*innen, weil es im Sexgewerbe eine hohe Rotation gibt: Viele arbeiten nur für zwei, drei Wochen in einem Club – und wechseln dann zum nächsten. Selbstständige Sexarbeiter*innen aus dem europäischen Raum erhalten eine Bewilligung für 90 Tage Aufenthalt in der Schweiz. Eine hohe Dunkelziffer besteht jedoch aufgrund derjenigen, die in Hotels und Privatwohnungen Escort- oder andere Dienstleistungen anbieten. Denn diese sind selten mit einer Beratungsstelle in Kontakt.

Weil sich weder Sexarbeiter*innen noch Freier gegenüber Ärzt*innen «outen», seien anonyme medizinische Tests sehr wichtig, sagt Grazia Aurora. Neu gibt es im Kantonsspital Winterthur anonyme Sprechstunden für sexuell übertragbare Infektionen (www.ksw.ch/sti). Zudem brauche es mehr Aufklärung bezüglich Übertragung von Geschlechtskrankheiten, meint sie. Denn gerade bei «Alles-Ohne-Dienstleistungen», betont auch Luisa, bestehe für viele Freier der Kick, etwas Verbotenes zu machen beziehungsweise mit einem Tabu zu brechen.

 

** Name geändert.

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