Stöbern in der Zeit, als die Zukunft schöner war

Jugendunruhen und Bio-Bewegung: Mit vier Ausstellungen und einem «Geschichtslabor» erforscht die Kunsthalle dieses Jahr die 1980er-Jahre – und wagt damit zum 40-Jahr-Jubiläum ein Experiment.

15.Juli 1980. In der Sendung «CH-Magazin» sollte über das Gesprächsthema Nummer 1 in der Schweiz debattiert werden: die Zürcher Jugendunruhen, die am 30. Mai 1980 in den Opernhauskrawallen ihren Höhepunkt fanden. Eingeladen wurden Vertreter*innen der städtischen Politik, unter ihnen auch Emilie Lieberherr und der Polizeikommandant der Stadt Zürich. Zudem eine Aktivistin und ein Aktivist der Jugendbewegung. Statt für die Anliegen der Bewegung einzustehen, verkleideten sich die beiden als «Anna Müller» und «Hans Müller» – ein erzkonservatives Paar, das die Diskussion komplett auf den Kopf stellte und mit ihrem Verhalten Emilie Lieberherr zur Weissglut trieb. Während der Sendung plädierten sie dafür, härter gegen die Krawallmacher*innen durchzugreifen. Zum Beispiel durch die Verwendung grösserer Gummigeschosse oder durch den Einsatz von Napalm. Die Sendung war, je nach Standpunkt, ein genialer Streich oder einer der grössten Skandale in der Geschichte des Schweizer Fernsehens.

Szenen des Beitrags sind auch im 1981 erschienenen Film «Züri brännt» enthalten. Es ist wohl die bekannteste Dokumentation über die Jugendunruhen in Zürich. Der Film soll dieses Jahr in der Kunsthalle Winterthur neben anderen Zeitdokumenten aus den 1980er-Jahren zu sehen sein. «Wir richten im Seitenlichtsaal ein Geschichtslabor ein», erklärt Thomas Zacharias. Joëlle Menzi bezeichnet das Projekt als Wühltisch, Oliver Kielmayer spricht vom Handapparat, der neben Fotografien, Videomaterial auf VHS-Kassetten auch Zeitschriften und Bücher – teilweise aus dem Antiquariat von Ulrich Harsch – umfasst. Das Projekt darf durchaus an den Lesesaal, der sich einst im Waaghaus an der Marktgasse 25 befand, erinnern. Wie der Seitenlichtsaal, den die drei mit alten Sofas aus dem Brockenhaus, mit Yukka-Palmen und Billy-Regalen, mit Röhrenfernsehern und Kunstkatalogen, Theorieschriften und Kunstwerken aus der Zeit einrichten wollen, definitiv heissen wird, entscheidet das Team erst kurz vor dem 22. Februar. Dann nämlich wird die erste Ausstellung des neuen Jahresprogramms, das sich auf die 1980er-Jahre konzentriert, eröffnet. Ihr Arbeitstitel «Die Zukunft war schöner» ist übrigens einer der Sponti-Sprüche, die während den Jugendunruhen auf eine Autobahnbrücke in Horgen gesprayt wurde.

 

Aus dem Alltagstrott ausbrechen

Ein Geschichtslabor in einer Kunsthalle? «Eigentlich komplett untypisch», sagt Oliver Kielmayer. Denn Kunsthallen seien dem neuen, dem gegenwärtigen Kunstschaffen verpflichtet. «Dass eine Kunsthalle für ihr Programm historisch zu denken beginnt, ist eher ungewöhnlich», bemerkt der Kurator und fügt an: «Auch dass eine Kunsthalle ein zeitgeschichtliches Jahresprogramm macht, ist eigentlich ein Unding.» Aber weil man hin und wieder aus dem Alltagstrott ausbrechen müsse und er der kuratorischen Routine etwas entgegensetzen wollte, ändert Oliver Kielmayer zum 40-Jahr-Jubiläum der Kunsthalle seine Arbeitsweise während eines Jahres und arbeitet zusammen mit Joëlle Menzi und Thomas Zacharias im kuratorischen Kollektiv. Und so steht das Jahresprogramm unter dem Motto «Ein kollektiver Rückfall in die gute alte Zeit».

 

Ausstellungen im Kollektiv zu organisieren, das ist an sich nichts Neues: Mitte der 1970er-Jahre entstanden in Zürich Ausstellungen wie «Frauen sehen Frauen» (1975), organisiert von einem feministischen Kollektiv. Später folgte «Saus und Braus» (1980), die die international bekannte Kuratorin Bice Curiger diesen Sommer im Strauhof in Zürich wieder aufleben lässt – als sogenanntes «Reenactment». Bice Curiger holte 1980 die Punk-Musikszene in die Kunstinstitutionen und erforschte im Strauhof unter anderem mit Künstlerinnen wie Klaudia Schifferle, Sängerin in den Bands Liliput/Kleenex, oder dem Künstler-Duo Peter Fischli und David Weiss ein neues, anderes Selbstverständnis des Kunstmachens. Es ging um einen erweiterten Kunstbegriff, um neue ästhetische Gestaltungsmittel. Kurz darauf, 1981, waren diese Künstler*innen auch in der Ausstellung «Bilder» im Kunstmuseum Winterthur zu sehen, die vom heute als Kabarettist und Verleger bekannten Patrick Frey kuratiert wurde. Das Kurator*innenkollektiv plant sowohl Bice Curiger als auch Patrick Frey sowie weitere Zeitzeug*innen zu Gesprächen und Präsentationen in die Kunsthalle einzuladen. Absicht sei es, im Austausch mit ihnen und den Besucher*innen neue Thesen zu den 1980er-Jahren aufzustellen.

 

Um die Zeit zu verstehen, in der die Kunsthalle Winterthur gegründet wurde, sei nur die Organisationsform des Kollektivs angemessen: flache Hierarchien, jede*r darf mitreden – das war typisch zu Beginn der 1980er-Jahre. Oliver Kielmayer, Joëlle Menzi und Thomas Zacharias werden in diesem Jahresprogramm deshalb gemeinschaftlich agieren. Und dabei auch der Frage nachgehen, wie die Gründung der Kunsthalle selbst in dieser Zeit zu verorten ist. Blickt man nämlich auf die Liste der Künstler*innen, die an der Marktgasse 25 ausgestellt haben, finden sich prominente Namen: Meret Oppenheim, Tony Craig, Franz Erhard Walther, Adrian Schiess sowie die bereits erwähnte Zürcher Künstlerin Klaudia Schifferle oder der Winterthurer Bendicht Fivian. Der damalige Kurator und Kunstliebhaber Kurt Münger hatte diese Ausstellungen mit Freund*innen und Bekannten in seiner Freizeit organisiert.

Blick auf die Winterthurer Ereignisse

Kollektiv die 1980er-Jahre erforschen, das will das Kuratorium nicht nur im Geschichtslabor. Das Jubiläumsjahr setzt mit vier Einzelausstellungen besondere Themenschwerpunkte. Mit den Werken von Bendicht Fivian eröffnet die Kunsthalle den Blick in eines der bewegtesten Kapitel der Lokalgeschichte: die «Winterthurer Ereignisse», die 1984 zu einer Verhaftungswelle innerhalb der lokalen Jugendszene führten. Bendicht Fivian stellte in seinen Strassenszenen den Aufruhr und die Demonstrationen der damaligen Zeit dar. Zudem war er eng befreundet mit dem Kunstmaler Aleks Weber, der für mehrere Brand- und Farbanschläge verantwortlich gemacht wurde. Die Geschichte um die Winterhurer Ereignisse hat der Journalist Erich Schmid bereits 1986 im Buch «Verhör und Tod in Winterthur» aufgearbeitet, dieses war die Vorlage für den gleichnamigen Dokumentarfilm von Richard Dindo. Eine Werkauswahl vom erst kürzlich verstorbenen Bendicht Fivian wird im grossen Oberlichtsaal präsentiert. Den historischen Kontext können sich die Besucher*innen selbst erarbeiten, indem sie sich Zeit nehmen, um im Fundus der Zeitdokumente zu stöbern, die im Geschichtslabor aufliegen werden.

 

Nach einem Fokus auf Proteste und Jugendunruhen folgt mit der Ausstellung des Malers und Installationskünstlers Adrian Schiess ein zweiter Schwerpunkt. Adrian Schiess gehört zu den Künstler*innen, die in den 1980er-Jahren durch ihre konzeptionelle Herangehensweise die Malerei als solche einen Schritt weitergedacht haben.

 

Die 1980er-Jahre waren nicht nur lokal, sondern auch weltpolitisch ein bewegtes Jahrzehnt. Die Vielfalt der Ereignisse reicht vom Ende des Weltempfängers nach dem  Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Aufkommen von Lokal-Radios sowie der Bio-Bewegung. Solche Themen drängen sich auf, um im Geschichtslabor vertieft verhandelt zu werden. Für das kuratorische Kollektiv bedeute dies zwar einen grossen Recherche-Aufwand, dafür biete sich der Kunsthalle im Waaghaus eine Chance, deren Ausstellungstätigkeit und Vermittlung «einmal anders zu denken», sagt Thomas Zacharias. «Wir werden in der Kunsthalle Geschichten erzählen, die vielleicht eine neue Perspektive auf die ausgestellten Werke ermöglichen.»

 

Fokus auf Punk- und Techno-Szene

Nach den Sommerferien stellt das kuratorische Kollektiv die Frage nach dem Verhältnis von Musik und Kunst in den 1980er-Jahren. Klaudia Schifferle war nämlich 1982 nicht nur die jüngste Künstlerin, die an die Documenta 7 eingeladen wurde, sondern auch eine der wichtigsten Vertreter*innen der damaligen Punk- und der späteren Techno-Szene in Zürich. Mit der Punk-Band Liliput beziehungsweise Kleenex erlangte sie anfangs der 1980er-Jahre international Bekanntheit, die Band hat heute noch Kult-Status.

 

Als Abschluss präsentiert die Kunsthalle dann einen eigentlichen Star der zeitgenössischen Kunst: Franz Erhard Walther. Er gilt als Wegbereiter für einen offenen Werkbegriff. Besucher*innen sind für den Prozesskünstler nicht nur Betrachter*innen, sondern immer auch Akteur*innen, die in Dialog mit den Werken treten, Kunstwerke benutzen oder sie interaktiv verwenden. In den 1980er-Jahren stellte der Künstler gleich zweimal in der Kunsthalle Winterthur aus, er hat also eine enge Verbindung zu dem Ort – und gerade deshalb schien es der Kunsthalle angemessen, ihn für das Jubiläum ein drittes Mal nach Winterthur einzuladen.

 

Bendicht Fivian

Vernissage: Samstag, 22. Februar 2020, 17 Uhr

Ausstellung: 23. Februar bis 17. Mai 2020

 

Adrian Schiess

Vernissage: Samstag, 6. Juni 2020, 17 Uhr

Ausstellung: 7. Juni bis 16. August 2020

 

Klaudia Schifferle

Vernissage: Samstag, 5. September 2020, 17 Uhr

Ausstellung: 6. September bis 8. November 2020

 

Franz Erhard Walther

Vernissage: Samstag, 21. September 2020, 17 Uhr

Ausstellung: 22. November 2020 bis 24. Januar 2021

 

Eintritt frei

Kunsthalle Winterthur

Marktgasse 25

www.kunsthalle-winterthur.ch

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