Die neuen Domains der Quarantäne

Die Corona-Krise trifft Kulturschaffende und -institutionen besonders hart. Können Online-Plattformen verlorene Einkünfte und fehlende Sichtbarkeit kompensieren?

Sonntag, 15. März, irgendwo in Berlin. Autor Donat Blum scrollt durch seinen Facebook-Newsfeed: Überall sieht er Posts über das Coronavirus, über den aktuellen Ausnahmezustand, der in allen Ländern Europas die Bevölkerung in ein Dasein katapultiert hat, das in dieser Dimension niemand zuvor je erlebt hat. Wie also ein wenig Positivität in diese geballte Ladung Bad News bringen, fragt er sich. Nur wenig später ist auf seiner Facebook-Wall folgender Post zu lesen: «Wer hilft ein kleines, unkompliziertes Online-(Literatur-/Kunst-)Festival auf die Beine zu stellen?» Die Reaktionen lassen nicht auf sich warten. «Innerhalb von drei Stunden haben sich rund 80 Autor*innen gemeldet», erzählt der Schweizer Schriftsteller. Mit den Autorinnen Melanie Katz und Katrin Bach, die sich als erste auf seinen Aufruf gemeldet haben, verabredet er sich auf Skype – und wenige Stunden später geht Edition 1.0 von «Viral – das online Literaturfestival in Zeiten der Quarantäne» auf Facebook live über die Bühne.

 

Ein Sprung ins kalte Wasser für alle Beteiligten, doch die technischen Mankos rücken angesichts der positiven Resonanz schnell in den Hintergrund. Vieles ist anders als an «normalen» Lesungen, so etwa die Reichweite. Online gewinnen die Autor*innen neue Zuhörer*innen, da der ganze deutschsprachige Raum Einzugsgebiet ist. Literaturhäuser, Verlage und Bibliotheken machen seither auf das Festival aufmerksam und die Zuschauer*innenzahlen wachsen stetig. «98 Prozent der Autor*innen lesen normalerweise selten vor so vielen Leuten», sagt Donat Blum. Zwischen 400 bis 1’000 Personen hören pro Live-Stream zu.

Finanziell sieht die Sache etwas weniger rosig aus. Obwohl die Zuhörer*innen auf einen PayPal-Account hingewiesen werden, um die Autor*innen mit einem kleinen Beitrag zu unterstützen, komme dabei nicht viel zusammen. Einige Stiftungen sind zwar bereit, Gelder zu sprechen, doch die Situation stellt auch sie vor offene Fragen: Was passiert, wenn sich die Lage ändert und Veranstaltungen schon bald wieder möglich sind?

Bis dahin führt das Trio, das mit der Organisation des Festivals etwas mehr als eine Vollzeitstelle bespielt, weiterhin sein Festival durch – und erzeugt trotz Isolation ein Gemeinschaftserlebnis. «Mit ‹Viral› wollen wir einen Beitrag dazu leisten, die Literaturszene vital zu halten», so Donat Blum.

 

SPECTYOU: Never Ending Love Story

Weniger ad hoc, aber in Zeiten von Corona genauso aktuell ist «SPECTYOU»: Eine Plattform, auf der Theaterstücke unabhängig von Ort und Zeit online gesehen werden können. Gegründet wurde sie von der Dramaturgin und Regisseurin Elisabeth Caesar. «Wegen meiner Stelle am Stadttheater Bern kam ich nicht mehr dazu, viel zu reisen und mir Stücke in anderen Städten anzusehen.» Obwohl es stets Kritiken zu lesen gibt, fehle doch der eigene Eindruck des Stückes.

In erster Linie geht es bei der Plattform, die Elisabeth Caesar und ihr Team seit Dezember 2017 aufbauen, um die Vernetzung und die Schaffung eines zentralen Theaterortes im Netz: von Theatermacher*innen für Theatermacher*innen. Die Plattform richtet sich aber auch an Interessierte, die aufgrund ihres Alters, ihrer familiären Situation oder geografischen Lage nicht ins Theater können. Und weil das Coronavirus den Gang ins Theater momentan ganz verunmöglicht, ging die Plattform etwas früher online als geplant.

Rund 1’000 Registrierungen zählte die Seite innerhalb weniger Wochen. Wichtig ist dem Team auch die Partizipation. «Bei uns sind Stücke von kleinen, unabhängigen Gruppen gleich neben Produktionen von grossen Häusern zu sehen», sagt Elisabeth Caesar. So findet eine Begegnung auf Augenhöhe statt. «Die Nachhaltigkeit und die Selbstermächtigung der Häuser und Kompagnien, unabhängig von politischen Wetterlagen, liegt uns ebenfalls sehr am Herzen.» Aktuell finanziert sich der Aufbau der Plattform durch private und öffentliche Gelder. Mit viel Herzblut entwickelt sich so das «Monsterbaby», wie Elisabeth Caesar es liebevoll nennt, von Tag zu Tag weiter in eine «Never Ending Love Story» – bis eines Tages die orts- und zeitunabhängige kulturelle Teilhabe für alle stattfinden kann.

 

Kulturklinik: Partizipation und Selbstwertgefühl

 

Genau vier Tage dauerte es, bis die «Kulturklinik» geboren wurde: Nachdem am 13. März die Schweiz mehr oder weniger stillgelegt wurde, stampfte Luca Piazzalonga, Programmmacher beim Kulturlokal Hirscheneck in Basel, gemeinsam mit Freund*innen über Nacht einen Verein aus dem Boden. Ihr Ziel: selbstständige Kulturschaffende während der Corona-Zeit dabei zu unterstützen, sich über Wasser zu halten. Auf www.kulturklinik.ch bieten Künstler*innen ihre Produkte an: CDs, T-Shirts, Kunstwerke, Workshops, Musikunterricht und vieles mehr. Mit der Plattform wollen sie, nebst dem finanziellen Zustupf, auch das Selbstwertgefühl der nun mehr oder weniger arbeitslos gewordenen Künstler*innen zu erhalten. «Die Plattform ist Hilfe zur Selbsthilfe», beschreibt es Luca Piazzalonga. «Wenn jede*r allen Freund*innen davon erzählt, erzeugt das einen Schneeballeffekt und die Kund*innen stossen so immer wieder auf neue Künstler*innen.».

Nebst «haptischen» Produkten kann man auch ein Medizinköfferchen erwerben: Diese «Medikits» kommen Ton- und Lichttechniker*innen, Veranstalter*innen und Barpersonal zugute, die in diesen Zeiten ebenfalls vor dem Nichts stehen. Einen «Mehrwert» im Sinne eines Produkts gibt es bei den Medikits nicht – auch keine Gutscheine. «Spenden mit späterer Gegenleistung sind keine tatsächliche Unterstützung, sondern bloss Insolvenzverzögerung», sagt Luca Piazzalonga. Die Einnahmen aus den Medikits wandern in einen Solitopf, der dann unter allen Beteiligten aufgeteilt wird. Wie der Shop nach der Krise aussehen wird, kann Luca Piazzalonga nicht sagen. «Idealerweise wird er nicht mehr gebraucht», sagt er.

 

Keinkauf: Fix gibts nix!

 

Beim Keinkauf gibts erst einmal nix. Und das ist so völlig in Ordnung. Mit der Plattform www.keinkauf.ch hat das Team um die Winterthurerin Nina Wenger in kürzester Zeit einen Webshop auf die Beine gestellt. «Vorbild war der Fussballclub Union Berlin, welcher virtuelle Stadionwürste im Internet verkaufte, währenddessen das Heimspiel gegen Bayern München hätte stattfinden sollen», sagt die Studentin. So gibt es auch auf «Keinkauf» nur rein symbolische Produkte, ohne Gegenwert: Nach dem Kauf erhalten die Käufer*innen lediglich einen Link zu einem Foto oder einem witzigen YouTube-Video.

Auch wenn die Personen, die hinter der Website stecken, beruflich nicht direkt von der Corona-Krise betroffen sind, war es für sie keine Option, nichts zu tun. Gleich nach der Verkündung der Massnahmen durch den Bundesrat schritten sie zur Tat – und schrieben 25 betroffene Institutionen in Winterthur an. Mit dabei sind die OnThur-Clubs, die oxyd-Kunsträume, das Casinotheater wie auch diverse selbstständige Kulturschaffende. Unterdessen dürfen sich auch weitere Betroffene melden – das letzte Wort für eine Aufnahme auf die Website hat jedoch das Team: «Wir prüfen, wer tatsächlich betroffen ist», sagt Nina Wenger. Wer nur aus Prestigegründen dabei sein will oder es nicht wirklich nötig habe, werde auf der Plattform nicht aufgenommen. Wichtig sei auch die Gesinnung: Die Betroffenen setzen sich alle für die Kultur ein und engagieren sich in normalen Zeiten solidarisch für andere. So werden auch die Einnahmen aufgeteilt: 75 Prozent gehen an die Betroffenen, 25 Prozent in die Solikasse, die anschliessend unter allen Betroffenen aufgeteilt wird. Und darum lohnt es sich umso mehr, zum Beispiel in «keinen geilen Torjubel» der FCW-Frauen zu investieren – damit dieser in ein paar Monaten umso lauter zu hören ist.

 

«Viral – das online Literatur-

festival in Zeiten der Quarantäne»:

www.facebook.com/glitteratur

  

SPECTYOU:

www.spectyou.com

  

Kulturklinik:

wwwkulturklinik.ch

  

Keinkauf:

www.keinkauf.ch

 

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