Im Dialog mit dem Hybriden

Zwischen Fremdem und Vertrautem: Für die Ausstellung «Hybride Identitäten» erschaffen Olga Titus und Andy Storchenegger in den oxyd-Kunsträumen eine Kultstätte.

Eine Treppe führt in einen dunklen, höhlenartigen Raum hinunter. Die Atmosphäre ist mystisch. Lichtquellen sind punktuell auf Skulpturen und Objekte gerichtet und spiegeln sich im Wasser der rautenförmigen Brunnen. Die Szenerie erinnert an die Kultstätte eines längst vergessenen Volkes, möglicherweise an die Inka-Stätten in Südamerika oder an die Hindu-Tempel im Südpazifik. In den sechs Wasserbecken sind verschiedene Skulpturen und Objekte platziert. Je näher ich trete, desto fremder, ja ferner, erscheinen mir diese auf den ersten Blick so vertrauten Objekte: Die Totempfähle lassen mich an indigene Völker im Pazifischen Nordwesten denken. Doch etwas stimmt hier nicht – die Farben sind zu grell, und das Material... ist das nicht Keramik?

Links von mir entdecke ich eine schwarze Schlange in einem baumähnlichen Objekt. «War die vorher schon da?», frage ich mich und suche die Umgebung nach weiteren Tieren ab. Schlangen haben in vielen Kulturen einen besonderen Status, nicht selten findet man in Tempeln Schlangengruben. Vielleicht befinde ich mich gerade in der Kultstätte einer Schlangengöttin? Oder im biblischen Paradies? Wohl kaum. Zu archaisch und düster mutet diese eigenartige Welt an – und dennoch erscheint sie modern, bunt und schillernd. Von der Decke des Höhlenreiches hängen Wandteppiche aus glitzernden Pailletten. Ihre Muster wechseln, als ich mit meiner Hand darüberfahre. Andernorts flimmern Bilder auf kleinen an der Wand installierten Monitoren, die in eine farbig-collagierte Bildwelt voller Erzählungen führen. Plötzlich taucht aus dem Nichts eine Prozession auf und tanzt, maskiert und singend, getrieben von elektronischen Beats und wildem Geschrei, vorüber...

...und ich schrecke aus meinem Tagtraum auf. Jäh zerpufft die Welt, die ich mir soeben imaginierte und die, inspiriert durch die Interviews, die ich vor ein paar Tagen mit Olga Titus und Andy Storchenegger führte, vor meinen geschlossenen Lidern aufdämmerte. Im Keller des Kornhauses an der Unteren Vogelsangstrasse wollen die beiden eine Art Kultstätte für eine neue Gemeinschaft aufbauen. Diese «Sehnsuchtslandschaft», wie sie Olga Titus auch nennt, entsteht im Rahmen der ersten Ausstellung im neuen Zuhause der oxyd-Kunsträume und trägt den Titel «Hybride Identitäten».

 

Zwischen den Kulturen

Im Film «Hybrids» hat Olga Titus bereits einmal eine Gemeinschaft kreiert, das in einer steinigen Wüste eine andere, fremde Welt erschaffen wollte. Die «Hybriden» beziehungsweise die «hybriden Identitäten» dienen auch in der Ausstellung im oxyd als Ausgangspunkt für eine neue, zukunftsorientierte Welt. Der Begriff hybride Identitäten bezeichnet Menschen, die sich verschiedenen kulturellen Räumen zugehörig fühlen. Olga Titus hat selbst einen interkulturellen Hintergrund: Ihre Mutter kommt aus Graubünden, ihr Vater stammt aus Malaysia, ihre Grosseltern aus Indien. Dieses Leben zwischen den Kulturen thematisiert die Winterthurer Künstlerin, indem sie die Bräuche und Traditionen verschiedenster kultureller Räume erforscht und in ihren Arbeiten aufeinanderprallen lässt. Mit viel Witz und Ironie schafft sie Stimmungsbilder, wählt dafür folkloristische, exotische wie auch Schweizer Klischeebilder und bedient sich verschiedenen handwerklichen Traditionen. Olga Titus überhöht und übertreibt gerne, spiegelt und hinterfragt so zugleich das Bild vertrauter und fremder Kulturen. In ihren Videos und Installationen wird so nicht nur das Schöne, sondern auch das Absurde und Konfliktreiche in unserer Welt sichtbar. Sie fragt danach, was Identität eigentlich ist und wo ihre Grenzen liegen. Dabei konzentriert sich die Künstlerin längst nicht mehr nur auf ihre biografischen Wurzeln. Auch bei Atelieraufenthalten im Ausland und auf sonstigen Reisen erforscht und befragt sie immer wieder ihre eigene «Hybridität» im Austausch mit dem jeweiligen Umfeld.

Auch Andy Storchenegger sucht die Begegnung mit anderen Kulturen. Sein Vorgehen ist im Gegensatz zu dem von Olga Titus nicht auf Selbsterforschung ausgelegt, sondern gleicht dem eines Anthropologen. Eine Recherche zu Paradiesvorstellungen führte ihn zunächst in die Südsee, danach reiste er nach Afrika und Südamerika, um archaische Bräuche zu erforschen. In der Schweiz begann der St. Galler Künstler ebenfalls nach dem Wilden und Urtümlichen zu suchen und fand es in den lokalen Fasnachtstraditionen. «Urtümliche Maskenbräuche findet man meist an Orten, wo man sie zuletzt erwartet hätte: beispielsweise in einer Aargauischen Mittellandgemeinde», bemerkt Andy Storchenegger. Er besucht die Rituale, fotografiert die Dorfbewohner*innen und fragt nach den Ursprüngen des Brauches. «Oft wissen sie allerdings nichts mehr über die Herkunft, sie pflegen die Bräuche einfach aus Traditionsbewusstsein weiter.» Gerade bei den lokalen Masken entdeckte der 42-Jährige unerwartete Parallelen zu denjenigen in der Südsee, Afrika und Südamerika. Bei den Masken existiert eine globale, archaische Gemeinsamkeit, sozusagen das Eigene im Fremden und umgekehrt. Diese Auseinandersetzung mit Bräuchen beeinflussen die künstlerischen Arbeiten von Andy Storchenegger. So hat er zum Beispiel in einem gemeinsamen Projekt mit einem peruanischen Künstler an Masken gearbeitet. Die Vorlage war eine Fasnachtsmaske aus dem Sarganserland. Die dreiteilige Maskenserie, die daraus entstand, verbindet die Tradition der Kukumas, einem indigenen Stamm aus dem Amazonasgebiet, mit dem Schweizer Fasnachtsbrauch.

 

«Ein neues Gemeinsames» entsteht

Für Andy Storchenegger sind die hybriden Identitäten «Körper, in denen zwei Seelen wohnen». In einer heterogenen Gesellschaft seien Identitäten aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt. Dabei sei das Gesamtbild, das sich bei der Vermischung dieser Elemente ergebe, viel spannender, als die Suche nach der Herkunft ihrer Bestandteile. Die Installationen ermöglichten, so Andy Storchenegger, «eine Begegnung mit einer anderen Kultur – keine bestehende, sondern eine neue, fremde Kultur». Es sind die Widersprüche, die Diskussionen und Debatten, die Auseinandersetzung mit dem Anderen, dem Unbekannten, die die beiden Kunstschaffenden interessieren – und auch Ausgangspunkt ihrer Kultstätte sind, die sie im oxyd aufbauen wollen. Das Nebeneinander beziehungsweise das Zwischen-den-Kulturen-Sein widerspiegelt sich dabei auch in der Zusammenarbeit: Die Kultstätte entsteht nämlich nicht als gemeinsame Arbeit. «Andy und ich arbeiten nicht im gleichen Atelier und sind deshalb auch nicht im ständigen Austausch», erklärt Olga Titus. Die Ausstellung sei daher eine Collage, ein loses Gefüge ihrer Arbeiten, bei dem die Frage, wo «ein neues Gemeinsames» entstehen kann, im Mittelpunkt steht. Dieses Gemeinsame, so erklärt es Eve Hübscher, Kuratorin der oxyd-Kunsträume, entstehe im Nebeneinander oder im Dazwischen der Arbeiten. Dort werden neue Inhalte und Bedeutungen produziert. «Gerade weil die beiden in Dialog treten und sich auf das Verbindende zwischen ihnen konzentrieren, erschaffen sie eine neue, gemeinsame Welt», sagt die Kuratorin. Diese Welt erweitere sich zudem laufend: Denn auch die Besucher*innen treten mit den Werken in einen Dialog...

 

...und manchmal stürzt die Welt auch in eine Krise: Geplant ist nämlich eine Intervention, eine «Störung», wie es Nathalie Bissig bezeichnet. Die aus Uri stammende Künstlerin beschäftigt sich ebenfalls mit dem Brauchtum der Fasnacht, insbesondere mit dem kollektiv gelebten Umgang mit Ängsten. Sie interessiert sich dabei vor allem für die Maskierung beziehungsweise den Impuls, aus einer bestehenden Ordnung auszubrechen und das geltende Gesetz aufzuheben. Zusammen mit der Band Laserwolf hat Nathalie Bissig eine Performance erarbeitet, die sich ans Konzept der Katzenmusik anlehnt: Bei diesem Fasnachtsbrauch aus Uri veranstalten die Einwohner*innen am Schmutzigen Donnerstag mit Büchsen, Hörnern, Trommeln, Rätschen und alten Sensen einen höllischen, missklingenden Lärm.

  

Hybride Identitäten

Vernissage, 20. August, 18:30 Uhr

20. August bis 4. Oktober 2020

Donnerstag, 16 bis 20 Uhr

Freitag, 9 bis 20 Uhr

Samstag und Sonntag, 9 bis 17 Uhr

oxyd-Kunsträume

Untere Vogelsangstrasse 4

www.oxydart.ch

 

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