22 Winterthurer*innen und 400’000 Franken

Was passiert, wenn zufällig ausgeloste Winterthur*innen darüber entscheiden, welche Kulturprojekte gefördert werden? Die SKKG (Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte) versucht dieser Frage mit dem Pilotprojekt «Kultur Komitee» auf den Grund zu gehen. Anna Kunz hat mit den Projektleiterinnen über die Erwartungen und Spielregeln des partizipativen Projekts gesprochen. Ein Bericht in zwei Teilen.

Die Stärkung von «kultureller Teilhabe» bildet einen der drei strategischen Schwerpunkte der vom Bund verabschiedeten Kulturpolitik, die unter Kultur nicht nur Kunst und Kulturerbe versteht, sondern wesentliche Elemente des gesamtgesellschaftlichen Lebens. Sie hat zum Ziel den Zusammenhalt und die kulturelle Vielfalt zu stärken und den Zugang zu Kultur zu erleichtern. Auch die in Winterthur ansässige Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte (SKKG) beschäftigt sich mit der Frage, wie kulturelle Teilhabe in Bezug auf Förderung umgesetzt werden kann. Über die Mieteinnahmen ihrer rund 300 Immobilien – ein Grossteil davon befindet sich in der Stadt Winterthur –, finanziert die Stiftung ihre gemeinnützige Arbeit. Diese umfasst einerseits die Aufarbeitung der rund 80000 gesammelten Objekte des 2018 verstorbenen Stiftungsgründers Bruno Stefanini, andererseits ihre Fördertätigkeit. Seit 2020 fördert sie mit drei Millionen Franken jährlich schweizweit Projekte, die Kulturerbe fokussieren. Nun hat sie ein weiteres Projekt lanciert, welches vorerst vier Mal durchgeführt werden soll: das Kultur Komitee. Die Stiftung stellt dafür insgesamt 2 Millionen zur Verfügung. Darin inbegriffen ist nebst den Fördergeldern auch die Finanzierung des Projekts selbst.

 

Das erste Kultur Komitee

Im Oktober 2021 erhielten 200 ausgeloste Winterthurer*innen einen Brief, in dem unter anderem stand: «Du brauchst kein besonderes Vorwissen, um Mitglied zu werden. Wichtig ist nur, dass Du bereit bist, Dich und Deine Perspektive ins Kultur Komitee einzubringen.» Insgesamt haben sich 37 Personen auf den Brief zurückgemeldet, 12 mit einer Absage, 25 mit einer Zusage. Drei weitere schieden aus persönlichen Gründen aus dem Prozess aus. 22 Personen bilden nun also das erste Komitee und dürfen über die Verteilung von 400000 Franken bestimmen. Bei jedem der vier Durchläufe wird das Komitee neu zusammengestellt. Ihre Teilnahme ist ehrenamtlich, für allfällige Arbeitsausfälle oder Kinderbetreuung während der Sitzungen kommt die SKKG finanziell auf. Jedes Mitglied erhält am Ende als Wertschätzung für ihr*sein Engagement 500 Franken, welche sie*er wiederum in den Besuch kultureller Veranstaltungen stecken kann – so lautet zumindest der Wunsch der Projektleitung. Um gemeinsam zu entscheiden, welche kulturellen Projekte in Winterthur gefördert werden sollen, hat sich das erste Komitee zu acht Treffen zwischen November 2021 und Juni 2022 verpflichtet. Während einer zehnwöchigen Bewerbungsfrist konnten Kulturschaffende Gesuche für Beträge zwischen 3000 und 40000 Franken einreichen. Die einzigen Bedingungen waren, dass die Antragstellenden in Winterthur ansässig sind und dass das Projekt der Stadtbevölkerung öffentlich zugänglich ist. Anfang April stehen die definitiven Entscheide des Komitees fest. Die auserwählten Gesuche werden mit einer einmaligen, zweckgebundenen Spende unterstützt. Geplant ist zudem, dass die geförderten Kulturschaffenden das Komitee Ende Mai zu einem Austausch treffen.

Das Konzept «Partizipation»

Wie kann Kultur partizipativer gefördert werden? Diese Frage steht im Zentrum des Kultur-Komitee-Projekts. Mit der Beantwortung setzen sich aber nicht nur die 22 Mitglieder des Komitees auseinander, sondern vor allem die Projektleitung. Noemi Scheurer, Kulturvermittlerin und Prozessgestalterin, und Mia Odermatt, Kulturunternehmerin und Kuratorin, konzipieren und begleiten das Komitee. Sie legen Rahmenbedingungen wie den zeitlichen Ablauf und Wege der Entscheidungsfindung fest, entwickeln das Gesuchformular, betreiben Öffentlichkeitsarbeit und kümmern sich um die Anliegen der Mitglieder und Antragsteller*innen. Dadurch bestünde natürlich auch die Gefahr, dass sie durch ihre eigene Perspektive zu viel vorgäben und das Komitee nicht seinen eigenen Weg suchen könnte. «Gerade deshalb ist es uns wichtig, unsere Prozesse immer wieder von aussenstehenden Personen spiegeln zu lassen – zum Beispiel durch Forschende der Universität Bern, die das Projekt evaluieren», sagt Noemi. Partizipation verstehen die beiden Projektleiterinnen als Prozess. Ihr Vorgehen haben sie nicht im Voraus bis ins Detail festgelegt, sie nutzen jedes Treffen mit dem Komitee als Vorlage, um die nächsten Schritte auszuhandeln. Die Komiteemitglieder können jederzeit darauf Einfluss nehmen und Kritik sowie Wünsche anbringen. Andererseits bleibt ihnen – auch aufgrund ihrer zeitlichen und persönlichen Ressourcen – die Mitbestimmung im Hinblick auf die weitere Projektgestaltung verwehrt, insofern sie – zumindest bei dieser Durchführung – nicht über das Auswahlverfahren des nächsten Komitees, die Gesuchsformulare oder die Struktur der Sitzungen bestimmen können. Einzig die Entscheidung, welche Projekte gefördert werden, wird allein vom Komitee gefällt. «Wir werden dort nichts mitzureden haben», führt Noemi aus.

Das Auswahlverfahren

In der Entwicklung der vier Durchläufe haben Noemi und Mia Gestaltungsfreiheit. Der Prozess der vier Komitees kann daher jedes Mal anders aufgebaut sein – sowohl das Auswahlverfahren als auch der Weg zur Entscheidungsfindung. Bereits bei der Frage, wer für das Komitee angefragt wird, hätte es für die Projektleiterinnen mehrere Möglichkeiten zum Vorgehen gegeben. Für das erste Komitee haben sie sich für das Losverfahren entschieden, weil bei 200 Personen eine relativ repräsentative Auswahl der Einwohner*innen Winterthurs angeschrieben werden könne. Sie erhofften sich, dass so vielleicht auch Menschen angesprochen werden, die nicht ohnehin schon einen engen Bezug zur Kultur haben, aber bereit sind, sich auf ein Experiment einzulassen. Noemi und Mia rechneten mit höchstens 12 Interessierten, gemeldet haben sich doppelt so viele. Um niemanden auszuschliessen, entschieden sie, dass diese Anzahl «genau richtig» sei. Aber was ist mit den anderen rund 118000 Einwohner*innen Winterthurs? «Wir hätten uns auch ein klassisch demokratisches Voting vorstellen können, bei dem alle über die Gesuche hätten abstimmen können», so Noemi. Aus der Befürchtung, dass gewisse Projekte mehr Aufmerksamkeit und somit bessere Chancen als andere hätten generieren können, entschieden sie sich dagegen, «und auch, weil wohl vor allem schon kulturinteressierte Personen abgestimmt hätten», führt sie aus. Ob sich mit der Auslosung aber wirklich mehr Personen mit weniger Berührungspunkten zur Kultur beteiligen und wie repräsentativ das Komitee ist, bleibt noch offen. Bei der grossen Mehrheit landete der Brief wohl im Altpapier. Die Gründe dafür können vielfältig sein, ein Verbesserungspotenzial haben sie bereits festgestellt: «Es ist eine grosse Herausforderung, so zu kommunizieren, dass möglichst viele unterschiedliche Menschen angesprochen werden. Uns ist bewusst, dass wir bereits mit der deutschen Sprache an Grenzen stossen. Hier sind wir gefordert, nach Lösungen zu suchen», sagt Noemi.

 

Der 1. Teil des Prozesses

Das zweite Treffen des Komitees fand am 22. Januar, über Zoom statt. Zuvor hatten sich die Mitglieder bereits einmal zum Kennenlernen getroffen. Eigentlich sollte ein Austausch über bestimmte Kriterien ihres Förderns im Fokus stehen. Der Austausch löste jedoch, so erzählen Noemi und Mia rückblickend, eine grundlegendere Diskussion aus: Viele äusserten den Wunsch, zuallererst ihre individuellen Haltungen zu Kultur zu klären und zu besprechen, wie sie Kultur gemeinsam verstehen können. Anschliessend diskutierten sie Fragen wie: Was braucht es, dass du einen Entscheidungsprozess als fair empfindest? Was wären klare Ausschlusskriterien für dich? Um dem Komitee zudem einen Einblick ins Gebiet der Kulturförderung zu bieten, organisierte die Projektleitung verschiedene Inputs, die einen Austausch auf Augenhöhe ermöglichen sollten. Bettina Stefanini als Stiftungsratspräsidentin der SKKG, Jelena Delic als Projektleiterin der städtischen Kulturförderung, Susanna Kumschick als Co-Leiterin und Kuratorin des Gewerbemuseums und Jürgen Baumann als freischaffender Künstler und Kurator erläuerten in jeweils sieben Minuten ihre Perspektive auf Förderung und was sie dem Komitee auf seinem Weg mitgeben möchten. Allen gemeinsam sei die Ermutigung zur Entwicklung eigener Gedanken, Strategien und Richtlinien gewesen. Was dem Komitee bei ihrem Vorgehen besonders wichtig ist und inwiefern es sich von Fachjurys unterscheidet, wird sich im Verlauf ihrer weiteren Treffen im März und April zeigen.

 

Grenzen und Spielregeln

Im Hinblick darauf, dass die eingereichten Projekte selbst keinen partizipativen Ansatz verfolgen müssen – «ausser», wie Noemi meint, «das Komitee wünscht sich dies» – ist die Frage von Belang, ob in diesem Projekt die Partizipation auf die Mitglieder begrenzt ist – oder ob sie auch über das Komitee hinausreichen könnte? «Uns interessiert, welche Auswirkung es auf die Gesellschaft und das Kulturleben Winterthurs hat, wenn für einmal nicht Kulturexpert*innen, sondern Laien entscheiden, welche Projekte spannend und förderungswürdig sind», meint Noemi. «Wir wollen fragen: Welche Projekte sind für eine breite und vielfältige Bevölkerung von Interesse?» Vielleicht, so die Spekulation der beiden, erhalten jene Ideen eine Chance, die sonst nicht unterstützt werden, weil sie in kein klassisches Förderschema passen. «Beispielsweise müssen bei uns die Kulturschaffenden die Gesuche nicht in vordefinierte Sparten einreichen, wie bei vielen anderen Stiftungen», sagt Mia. «Ich bin gespannt, welche Diskussionen und Möglichkeiten das Fördergefäss Kultur Komitee bei den Kulturschaffenden aber auch bei den Winterthurer*innen eröffnen wird.» Die Projektleiterinnen waren darum bemüht, das Gesuchformular möglichst einfach und offen zu gestalten. Sie wollten eine breite Auffassung vom Kulturschaffen zulassen und insbesondere auch jene zum Einreichen ermutigen, die eine spontane Idee praktisch ausprobieren möchten. Gleichzeitig sind durch den jeweils komplett neuen Aufbau des Komitees stets andere Kriterien von Bedeutung und die Unterstützungsbeiträge als einmalige Spende, nicht als längerfristige Förderung gedacht. All jene, die permanent einen Raum mieten müssen oder laufende Ausgaben für Löhne und einen Betrieb haben, bräuchten für die Umsetzung ihrer Projekte aber garantierte Gelder über längere Zeit. So kann diese Art punktueller Förderung Planungsunsicherheiten und wiederholten Aufwand für die Beantragung neuer Gelder bedeuten.

Noemi und Mia jedenfalls sehen das Kultur Komitee als Mittel, um mehr zu partizipativen Fördermöglichkeiten herauszufinden. Und sie zeigen sich optimistisch: «Wir trauen dem Komitee viel zu», sagt Noemi. «Die Mitglieder gehen gewissenhaft an ihre Aufgabe heran und investieren viel Zeit. Uns beeindruckt, zu sehen, wie sich das Komitee gemeinsam um Fragen der Zugänglichkeit von Projekten oder um die eigene Befangenheit im Entscheidungsprozess Gedanken macht.» 183 Gesuche sind es. Zwischen 3000 und 40000 Franken wurden jeweils beantragt, insgesamt 3,1 Millionen Franken. Das Komitee wird nur rund einen Achtel davon fördern können. Wie gehen sie diese Aufgabe an, was für Diskussionen und Fragen kommen auf? Welche Aspekte sind ihnen wichtig? Und welche Projekte werden sie fördern? Diese Fragen und die Erfahrungen einzelner Mitglieder stehen im Fokus des zweiten Teils, der in der Mai-Ausgabe erscheinen wird.

 

Anna Kunz studiert in Basel Kulturanthropologie und schreibt seit fünf Jahren beim Coucou.

 

Pattriz ist Illustratorin, doppeltes Katzengotti und mag Fragen, wie die nach der Definitionen vom Kulturbegriff.

 

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