Radikal menschlich

Radikal menschlich

Da, wo Jordi Vilardaga herkommt, sind Kultur und Katholizismus eng miteinander verbunden. Als Regisseur schält er nun aus dem Stoff des Lebens Theaterstücke.

Als Kind kannte Jordi Vilardaga genau ein einziges deutsches Wort: «Kartoffel». Aufgeschnappt von all den deutschen Touristen, die Jahr für Jahr die Costa Brava stürmten. «Eine wüste Sprache», erinnert er sich. Da wusste er noch nicht, dass es ihn einige Jahre später ganz in die deutschsprachige Welt verschlagen würde und er sich diese Sprache für den Rest seines Lebens würde aneignen müssen. Der Umzug aus dem Dorf am Fuss der Pyrenäen, in dem Kultur und Katholizismus in eklektischer Symbiose miteinander existieren, in die spiessbürgerliche Pampa Schaffhausens war für den achtjährigen Jordi Vilardaga eine grosse kulturelle Umstellung. Sein Vater, Maschinenschlosser und «politisch bedingter Wirtschaftsflüchtling», wie er sich selber nannte, wollte seiner Familie in der Schweiz ermöglichen, was in Katalonien nicht möglich gewesen wäre: Eine solide Zukunft, deren Beginn den heute 56-Jährigen in eine Primarschulklasse katapultierte, ganz ohne Sprachkurs und Integrationshilfe. Er habe erstmal drei Jahre lang geschwiegen, erzählt er. Seinen selektiven Mutismus durchbrach das Versprechen einer Lehrperson, dass er die 6. Klasse überspringen könnte.

 

Und es war wiederum eine Lehrperson, die ihm ein zweites Mal im Leben eine Tür öffnete: In einer Zeitung zeigte sie ihm ein Inserat für das Regiestudium in Zürich. Ein Glücksfall: Denn wenn es eine Konstante in seinem Leben gibt – trotz geographischer und sprachlicher Brüche – dann ist es das Theater. «In dem 12'000-Seelen-Ort, wo ich herkomme, gab es zwei Theater: Ein katholisches und ein kommunistisches», erzählt Jordi. 20 Kilometer von der französischen Grenze entfernt, formten sich die Einwohner*innen die Kultur so, dass es für sie passte. Glaube und Aberglaube seien sich da wahnsinnig nahe gewesen. Und so ging Jordi Vilardaga zum Vorsprechen, zerriss sich das Hemd und sprach katalanisch. «Vom Ranzen weg», nennt er das – und wollte dabei vor allem eins: beweisen, dass er es kann. Genommen wurde er vom Fleck weg, als einer von 20 Student*innen, die wiederum aus 400 Bewerber*innen ausgewählt wurden. Er müsse darüber nachdenken, sagte er nach dem positiven Bescheid. Immerhin spielte er gleichzeitig auch Fussball in der Nati B. Doch am Ende obsiegte das Theater – und Jordi Vilardaga verbrachte zweieinhalb Jahre an der Schauspielakademie an der Winkelwiese. Ein halbes Jahr vor dem Diplom gründete er das Mo Moll Theater. Nach ihren Anfängen in der Roten Fabrik in Zürich schottete sich die Theatergruppe im Toggenburg von der Aussenwelt ab. Noch heute befindet sich in der Bahnhalle nach Lichtensteig das von ihnen gegründete Chössi Theater. «Unten gab es das Restaurant, in dem wir oft aushalfen», erinnert sich Jordi Vilardaga. In der restlichen Zeit wurden die Stücke geprobt. Jahre später zog die Truppe ins etwas weniger rurale Kreativmilieu von Wil SG.

 

«Theater war für mich auch immer politisch»,

sagt Jordi Vilardaga. Niemals explizit, aber zwischen den Zeilen: «Wir haben mehrmals Waffenplätze besetzt und dort unsere Bühne aufgebaut.» 1995 machten sie Furore mit „Lysistrata“ nach dem Comic von Ralf König, einer satirischen Adaption des Anti-Krieg-Plädoyers von Aristophanes,– und das Theater Kanton Zürich (TZ) fragte den Regisseur an, ob er eine Gastregie übernehmen wolle: «Erst war ich beleidigt.» Immerhin seien Institutionen in erster Linie dazu da, abgeschafft zu werden. Doch Jordi Vilardaga sagte zu und übernahm wenige Jahre später die Direktion. Nach elf Jahren am TZ gründete er mit langjährigen Mitstreiter*innen die Genossenschaft Theater Ariane mit eigenem Zimmer-Theater, dem kleinsten Theater in Winterthur. Auch wenn er nur über einen Bruchteil des Budgets verfügt und sich sein Monatsgehalt in manchen Monaten im einstelligen Bereich bewegt, ist das Ariane das, wo sein Herz zuhause ist. Und die Gänsehautmomente: «Theater ist für mich auch immer eine Suche nach der Katharsis, eine Art Messe, wo man den Geist Fleisch werden lässt.» Wenn Theater bei den Zuschauer*innen nichts bewirke, bringe es nichts. Es müssten Grenzen überschritten werden. Und immer steht für den Theatermann die eine Frage im Vordergrund: «Was heisst es, Mensch zu sein?»

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