Ein Körnchen Bewusstsein

Zum ersten Mal war ich auf einem Friedhof, ohne Angehörige zu besuchen. Aus dieser emotional unbefangenen Perspektive erwies sich der Friedhof Rosenberg als Ort zum Nachdenken.

Ich besuche den Friedhof Rosenberg zur Mittagszeit. Kaum jemand ausser mir ist unterwegs. Vom Eingang her erstreckt sich der Friedhof einem Hang entlang Richtung Norden. Einige Gebäude sind um den Eingang gruppiert. Etwas zögerlich stosse ich das Tor auf und beginne, den Ort zu erkunden. Die Vögel zwitschern, werden jedoch von den vorbeifahrenden Autos übertönt. Aus einem Gebäude sind Radio-Geräusche deutlich zu hören. Das Einkaufszentrum Rosenberg dominiert die Aussicht mit seiner grauen Fassade und dem roten Schriftzug. Doch es stört die Ruhe des Ortes nicht. Eine Art von Ruhe, welche nur auf einem Friedhof anzutreffen ist: Sie ist beinahe physisch spürbar, stärker als all die kleinen Ablenkungen des Alltags. Verkehr und Kommerz vermögen es nicht, dauerhaft in diese Welt der ewigen Stille einzudringen.

 

Der Friedhof Rosenberg umfasst mehrere Bereiche, die sich in ihrem Erscheinungsbild stark unterscheiden. Manche sind wie ein Dorf konzipiert, mit gepflegten Pfaden, präzis geschnittenen Hecken, Steinmauern und Gebäuden. Andere Zonen sind stärker in den angrenzenden Wald integriert. Sie sind dunkler, wilder und naturbelassener. Hier befinden sich auch jene Gräber, die, statt mit einem Grabstein versehen, mit einem Baum bepflanzt wurden. Dieser Übergang von einem geordneten zu einem naturbelassenen Teil ist geplant und kann durchaus als Metapher gelesen werden: der Mensch, der nach dem Tod in die Natur übergeht, zu ihr zurückkehrt.

 

Auf meinem ziellosen Weg durch diese unterschiedlichen Bereiche komme ich zu einem unbenutzten Gräberfeld. Ein Acker voller Moos, Unkraut und Erde tut sich auf und entfaltet sich vor meinen Augen. Ansatzweise sind noch die Pfade der Besucher*innen zwischen den Grabreihen zu erahnen. Verwitterte Steinplatten ragen aus dem Untergrund hervor, auf manchen erkennt man noch den ein oder anderen Buchstaben. Hier und da wächst eine Blume, wohl die Nachfahrin eines einstigen Grabschmucks.

Dieses Feld war einmal voller Gräber, farbenfroh und geschmückt. Nun aber liegt es brach und wartet auf seine zukünftige Nutzung. Unnütz hängt es irgendwo im Dazwischen, in einem seltsamen Raum zwischen Tod und Tod. Der trostloseste Ort auf dem Friedhof ist jener, auf dem niemand begraben liegt.

 

Während des gesamten Besuchs kämpften in mir zwei gegensätzliche Gedanken um die Oberhand. Zum einen drängt sich ein Gefühl von Sinnlosigkeit auf: Nichts hier ist menschlich. Rational gesehen hat alles an diesem Ort die Fähigkeit verloren, sich auszutauschen, Informationen zu verarbeiten, zu fühlen. Leere Hüllen, organisches Material, Steine. Wir besuchen den Friedhof um unser selbst willen, um uns besser zu fühlen. Das Haus steht, doch schon längst ist niemand mehr daheim. Die Toten bleiben tot.

Zum anderen jedoch ist da auch ein allumfassendes Gefühl von Bedeutung. Die Vergänglichkeit der Existenz ist auf dem Friedhof beinahe physisch spürbar. In jedem Ornament, jedem Grabstein, jeder Pflanze und jedem Pfad schlummert die Erkenntnis, dass auch ich Teil eines Prozesses bin, der eines Tages ein Ende findet. Wie ein Fisch, der für einen Augenblick die Wasseroberfläche durchbricht, existiert auch unser Bewusstsein in einem kurzen Moment, um dann wieder in der scheinbar endlosen Suppe des Universums zu vergehen. Und was (zumindest noch ein bisschen länger) bleibt ist irgendeine Gravur meines Namens.

Für diesen kurzen Moment von Leben verspüre ich eine eigenartige Dankbarkeit, wie ich sie so nur auf einem Friedhof erleben kann. Dankbarkeit, dass ich ein winziges Körnchen Bewusstsein in der endlosen Leere des Weltalls sein darf.

«Weisch, det vorem Manor.»
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Das traurigste Trottoir Winterthurs
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Das isch d’Chnelle ebe
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