In der zweiten Primarklasse rief die kleine Sara den Förster an und fragte ihn, ob sie eine Waldhütte bauen dürfe. Sie hatte bereits berechnet, wie viel Platz sie dafür brauchen würde und in ihrem Kinderzimmer die Masse abgesteckt. «Ich hatte in Kinderbüchern viel von Bandenquartieren gelesen», schmunzelt die 34-Jährige. «Der Förster sagte nein. Ich bin noch heute enttäuscht.» Den Traum vom selbstgebauten Zuhause aus Holz gab die heutige Schreinerin und Holzbildhauerin aber nie auf.
Nach der Matura plante Sara zunächst ein Studium in Biolandbau und absolvierte dafür Praktika auf Biohöfen. In dieser Zeit baute sie ihren ersten Bauwagen. Dies tat sie anfangs mit einem Freund und dann im Holzlabor, einer Winterthurer Schreinerei, die auf Wagenbau spezialisiert ist. Begeistert von der Arbeit entschied sie sich gegen das Studium und absolvierte als erste Person in diesem Betrieb eine Lehre als Schreinerin. So kam sie mit Wandersleuten in Kontakt.
Diese Handwerker*innen begeben sich nach abgeschlossener Lehre für mindestens drei Jahre und einen Tag auf Wanderschaft (auch «Walz» oder «Tippelei» genannt). Während dieser Zeit arbeiten sie an verschiedenen Orten ausserhalb eines Umkreises von 50 Kilometern ihres Heimatortes. Die Tradition stammt aus dem Mittelalter. Damals war eine Wanderschaft erforderlich, um Meister zu werden und einen Betrieb zu gründen. Heute ist sie für die Ausübung eines Handwerksberufs keine Pflicht mehr. Dennoch sind noch immer Wandergesell*innen unterwegs: Entweder in sogenannten Schächten – fast alle davon männlich geprägte Gesellenvereinigungen – oder als freireisende Handwerker*innen.
Sara entschied sich nach ihrer Lehre zunächst gegen eine Wanderschaft – unter anderem wegen der sogenannten Kluft. Alle reisenden Handwerker*innen tragen dieselbe Kleidung: einen Hut, den sie nur zum Essen ausziehen, bei Holzberufen schwarze Schlaghosen, eine Weste, eine Jacke und ein weisses Hemd. Sechs Knöpfe auf der Jacke symbolisieren sechs Arbeitstage in der Woche; acht Knöpfe auf der Weste acht Arbeitsstunden am Tag; drei Knöpfe an den Ärmeln drei Wanderjahre. Diese Mythisierung findet Sara interessant, teilweise aber auch etwas anstrengend: «Man sieht halt aus, als wäre man aus einem Mittelalterfilm abgehauen.» Durch den Wiedererkennungseffekt stehen den Reisenden aber viele Türen offen.
Schliesslich begab Sara sich doch auf die Wanderschaft, denn: «Das Unterwegssein fasziniert mich, unabhängig vom Handwerk, weil ich gerne verschiedene Realitäten sehe.» Einmal unterwegs, unterstand sie klaren Verhaltenskodexen: Sie durfte kein Handy dabeihaben und weder für Unterkunft noch für Fortbewegung Geld ausgeben. Nach zwei Probemonaten wurde Sara «genagelt» – durch ihr Ohrläppchen an einen Baumstamm. In diesem Loch trägt sie nun einen goldenen Ohrring, dessen Bedeutung auch aus dem Mittelalter stammt: Er hat den Wert des eigenen Begräbnisses. Starb ein Reisender unterwegs, konnten andere mit dem Ohrring seinen Sarg bezahlen. Ausserdem: Benahm sich ein Wandergeselle schlecht, rissen andere ihm den Ohrring aus. Am «Schlitzohr» war fortan erkennbar, dass er sich schlecht verhalten hatte.
Unterwegs erhielt sie ab und zu Besuch vom Fotografen Felix Singer, dem Vater eines Freundes. Er dokumentierte ihre Wanderschaft als freireisende Schreinerin im Fotobuch «1117 Tage auf Tippelei». Die Fotoausstellung zum Buch ist noch bis am 27. März in der Alten Kaserne in Winterthur zu sehen.
Nach ihrer Rückkehr besuchte Sara die Schule für Holzbildhauerei in Brienz. Sie hatte schon früher mit dem Gedanken gespielt, konnte sich damals jedoch nicht vorstellen, in den kleinen Ort zu ziehen. «Die Wanderschaft hat einige Kanten abgeschliffen. Durch den breiten Zugang zu allen Gesellschaftsschichten bin ich offener geworden für Realitäten und politische Meinungen, für die ich vorher weniger Verständnis hatte», erläutert sie.
Die Ausbildung zur Holzbildhauerin zeigte ihr eine neue Perspektive auf die Arbeit mit Holz: Während beim Schreinern jeweils die Funktion bestimmend war, stand bei der Bildhauerei die Form im Vordergrund. Dies weckte in Sara das Interesse, wie sie bei den Objekten, die sie erschafft, Nutzen und Ästhetik verbinden kann. Dabei reizt sie vor allem der Prozess: «Wenn das Objekt fertig ist, finde ich es dann schön, wenn jemand anderes Freude daran hat.» Manchmal fällt es ihr aber dennoch schwer, sich von einem fertiggestellten Objekt zu trennen. Beispielsweise von einer Madonna, die sie als Sicherungskopie schnitzte. Mit dem Motiv konnte sie zunächst wenig anfangen, freundete sich aber über die Monate mit ihr an: «Es ist ja eigentlich einfach ein Stück Holz. Doch indem man ihm eine Form gibt und sich intensiv damit beschäftigt, kann man eine Beziehung aufbauen.»
Diesen Sommer eröffnet Sara gemeinsam mit ihrem Partner Ben, den sie auf der Wanderschaft kennenlernte, das Atelier Akanthus. Dieses richten sie in den ehemaligen Räumlichkeiten der Genossenschaft Holzlabor in Thalheim an der Thur ein, wo Sara ihre Lehre absolviert hatte. Ben schreinert hauptsächlich, während Sara ihren Fokus auf das Schnitzen und die Bildhauerei legen möchte. An Ideen mangelt es Sara nicht: Sie würde gerne auch ausbilden und ihre Werkstatt für Kinder oder Menschen mit beschränkten finanziellen Mitteln öffnen. Sie möchte anderen Menschen und insbesondere Flinta-Personen die Begeisterung am Handwerk näherbringen: «Es ist so selbstermächtigend, wenn du Sachen selbst machen kannst.» So nimmt sie eine Vorbildfunktion ein, die ihr während der Berufswahl und als einzige Frau in der Berufsschule gefehlt hatte. Sie selbst machte als Schreinerin nicht viele unangenehme Erfahrungen, hat aber doch immer wieder das Gefühl, sich als Frau in diesem Beruf mehr beweisen zu müssen als Männer.
Dass Sara nach Winterthur zurückkehren würde, war lange nicht klar. Doch sie ist hier verwurzelt und schätzt das Netzwerk in der Kulturstadt, welches insbesondere hilfreich ist, um sich in einer Nische selbständig zu machen. So fährt Sara im Sommer ihren Bauwagen, den sie während der Wanderschaft und der Holzbildhauerei-Ausbildung gebaut und mit kunstvollen Schnitzereien verziert hatte, an die Thur. Das Atelier Akanthus wird ihr Wohnzimmer, der Bauwagen ihr Schlafplatz – damit würde die Sara von damals, die von ihrer eigenen Waldhütte träumte, wohl zufrieden sein.
Christina Nanz
ist Autorin beim Coucou und schreibt gerne Geschichten über starke Frauen.
Rebecca Pfisterer
ist Bildredaktorin und Fotografin und wohnt in Winterthur.