Anatol abholen

Anatol abholen

Immer, wenn ich von meinem Schreibtisch aufschaue, ruft mich jemand an: Das Cover des Buches «Anatol abholen» ist so echt auf «Anruf annehmen / ablehnen» gestaltet, dass ich jedes Mal darauf reinfalle.

Überhaupt kann man sich in dieses Buch hineinfallen lassen, es in einem Zug lesen, sich in die Geschichte begeben wie in einen Film. Die Mutter und Künstlerin Jil Herbst liebt ihre zwei Kinder, hat jedoch ständig das Gefühl, ihnen nicht gerecht werden zu können. Insbesondere weil das jüngere Kind, Anatol, besondere Aufmerksamkeit braucht: Im Kindergarten kommt Anatol beim geringsten Anlass in Not und lässt sich nicht beruhigen. Fast täglich muss Jil ihr tobendes Kind abholen. Die Regelschule weigert sich, Anatol weiter zu beschulen. Es folgt eine Odyssee durch zahlreiche Institutionen.

Wie übersteht eine Familie solche Herausforderungen, ohne daran zu zerbrechen? Wie reagiert die Gesellschaft, das Schulsystem auf «besondere» Kinder, auf sogenannte Systemsprenger? Diese Fragen werden dringlich gestellt. Die Sprache ist direkt, genau, beinahe nüchtern, zugleich schimmern poetische Feinheiten in den Formulierungen der Autorin durch, die das Buch beleben und vertiefen. Lea Gottheil schreibt Sätze wie «Als hätte es Jil aus einer Tiefe durch samtenes Wasser an die Oberfläche getrieben, weil ihr der Sauerstoff ausgeht». Solche Bilder sprechen von unserer Zeit, von unserer vielschichtigen menschlichen Existenz. Sie vermögen zu faszinieren, auch jenseits der Thematik des Buches.

Die Erlebnisse der Familie Herbst sind der Zürcherin Lea Gottheil – wie vielen anderen Familien – allzu bekannt. Mit ihrem Buch wollte sie auf die Überforderung und deren Begleiterscheinungen aufmerksam machen. Auch war es ihr wichtig, den Blick auf die Eltern zu lenken: Jil ist voller Selbstzweifel, einsam und erschöpft. «Ich wünsche mir, dass die Fachkräfte vermehrt auf den Zustand der Eltern achten und ein grösseres Angebot an Unterstützung und Austausch entsteht», sagt die Autorin.

Es gebe schon viel Fachliteratur zu Eltern mit neurodivergenten Kindern. Als Schriftstellerin hat Lea Gottheil mit ihrem Roman eine andere Möglichkeit genutzt, um Menschen zu erreichen: «Die Literatur vermag es, Empathie zu wecken. Sie webt feine Muster, beleuchtet Dinge, die im Verborgenen liegen», erklärt sie. Sie werfe aber auch Fragen auf, die sie nicht beantworten müsse, die sie in den Raum stelle.

«Anatol sitzt auf dem Sofa. Er tötet Geister auf dem Tablet», ist so ein Satz, der Welten öffnet und zu erschüttern droht. Doch trotz aller Strapazen resigniert Lea Gottheil nicht: «Der Schluss des Buches steht für Hoffnung. Dieses Gefühl begleitet mich stets. Das wollte ich in die Welt tragen.»

«Anatol anbholen» umfasst 150 Seiten und wiegt 270 Gramm.

Ruth Loosli mag Eydus und andere Poesie; sie gestaltet auch Schriftbilder.

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