Auf einen Earl Grey Tee mit Milch mit Matthias Schlemmermeyer

Dass jeden August Leute auf der Musikfestwochenbühne stehen, passiert nicht ganz zufällig. Dafür sorgt unter anderem Matthias Schlemmermeyer, der seit zehn Jahren als Booker beim Festival tätig ist. Anna Kunz hat mit ihm gesprochen.

AK: Du hast diesen Sommer dein 10-Jahre-Jubiläum als alleiniger Booker bei den Musikfestwochen (MFW) gefeiert. Wie bist du zu den MFW gekommen?

MS: Bei den Winterthurer Musikfestwochen war ich zuerst als Helfer in der Bandbetreuung dabei. Nach dem BWL-Studium in Konstanz habe ich im Kiff Aarau gearbeitet und dort Jane Wakefield, meine Vorgängerin kennengelernt. Als sie mit dem Booking bei den Musikfestwochen aufhörte, schlug sie mich vor und ich sagte zu, weil ich ohnehin nicht mehr so Lust auf Clubbetrieb und die Arbeit in der Nacht hatte.

 

AK: Seither hast du viele MFW-Sommer erlebt. Mein Eindruck dieses Jahr war, dass der Aufbau und der 12-tägige Festivalbetrieb komplett reibungslos abgelaufen sind. Hast du das auch so empfunden oder gab es in deinem Bereich etwas, das nicht so gut ging?

MS: Nein, es war wirklich erstaunlich komplikationslos. Abgesehen von zwei kurzfristigen Absagen, Katy J Pearson und Black Midi, lief alles wie immer – ziemlich unkompliziert. Kurz war unsicher, ob Fontaines DC spielen können, weil ihr Truck am Sonntagmorgen an der Schweizer Grenze hängengeblieben ist. Ihre für Trucks notwendige Nachtfahrbewilligung war ausgelaufen. Sie haben es aber dann doch geschafft, eine Ausnahmebewilligung zu bekommen. Ansonsten wäre die Show wohl ausgefallen, was schade gewesen wäre zum Schluss des Festivals.

 

AK: Es gibt ja schon ein paar Dinge, die schief laufen könnten, gerade bei so vielen Bands – bist du vor dem Festival jeweils nervös?

MS: Früher war ich deutlich nervöser. Inzwischen sind aber schon so viele Dinge passiert,  zum Beispiel Corona, dass ich einen grossen Erfahrungsschatz entwickelt habe, auf den ich zurückgreifen kann. Was mich jeweils etwas nervös gemacht hat, war die Anzahl Ticketverkäufe. Aber das kommt sowieso, wie es kommt. Da hat mir auch die Coronazeit gezeigt: Gewisse Dinge hat man nicht in der Hand und es bringt nichts, deswegen nachts wach zu liegen.

 

AK: Das Programm spielt eine grosse Rolle fürs Festivalbudget. Rund eine halbe Million Franken, 20 Prozent der Gesamteinnahmen steuern die Ticketverkäufe bei. Viel mehr als Werbung machen und auf gute Verkaufszahlen hoffen, könnt ihr nicht, oder?

MS: Nicht wirklich. Aber als Booker weisst du, wenn nach zwei Wochen nicht viele Tickets verkauft sind, werden es wahrscheinlich später auch nicht viele mehr. Ausser es passiert etwas Besonderes. Zum Beispiel, dass eine der Bands plötzlich einen Riesenhit landet oder sich im Zeitraum bis zu den Musikfestwochen stark entwickelt, wie Wet Leg dieses Jahr.

 

AK: Wie viele Konzerte besuchst du eigentlich so durchs Jahr?

MS: Während der Coronazeit hat sich das stark verändert. In den letzten zwei Jahren war ich an weniger Konzerten als gewöhnlich. Normalerweise schaue ich mir im Schnitt 100 Konzerte pro Jahr an.

 

AK:Ich habe gehört, dass du keine Band buchst, die du zuvor nicht schon live gesehen hast. Stimmt das?

MS: Vor Corona war das so und ist an sich schon auch die Idee. Es macht einfach einen riesigen Unterschied, wenn man die Band schon live gesehen hat und einschätzen kann, ob sie eine gute Show abliefern. Bei uns spielen die Acts auf der grossen Bühne vor 3’000 bis 4’000 Leuten. Das ist meist einiges mehr als sie sich gewohnt sind. Da müssen sie, weil sie meistens nicht so populär sind, etwas anderes mitbringen. Mir ist wichtig, dass sie die Leute vor Ort überzeugen können. Darum sieht man in unserem Programm auch tendenziell weniger DJs oder MCs, die an sich weniger Bühnenpräsenz haben. Da stelle ich lieber eine qualitativ überzeugende zehnköpfige Band auf die Bühne, welche auch visuell was hermacht.

 

AK: Ist das also der Deal bei den Musikfestwochen – weniger Gage, dafür mehr Popularität?

MS: Ja, auf jeden Fall. Gerade bei Jeremias, Edwin Rosen oder Von Wegen Lisbeth war es so, dass die Bands an ihrem Auftritt nichts verdienten, sondern sogar noch Geld drauflegen mussten. Aber sie wissen, wenn die Show gut ankommt, hilft es ihrer langfristigen Positionierung in der Schweiz. Deshalb sind unsere hohen Besucher*innenzahlen ein Argument, das wir bei Booking-Anfragen nutzen. Aber es gibt natürlich auch das Umgekehrte. Dass die Agenturen meinen, bei so viel Publikum müssten wir auch mehr bezahlen. Diese Bands können wir dann einfach nicht buchen.

 

AK: Ist es denn grundsätzlich so, dass die Bands ein kostenloses Programm auch unterstützenswert finden und darum gerne für wenig oder kein Geld spielen?

MS: Ich glaube es ist eher so, dass wir uns in den letzten Jahren ein Image aufgebaut haben: Wir machen kostenlose Konzerte, haben aber dennoch ein musikinteressiertes Publikum. Das schätzen die Bands und schenkt auch ihnen ein gutes Konzerterlebnis.

 

AK: Im Interview mit Radio Stadtfilter hast du diesen Sommer gesagt, dass du an The National dran seist, es aber schwierig sei. Was heisst das genau?

MS: Bei solch grossen Bands ist es immer so, dass sie viele Pläne und Interessen haben. Wenn sie ein gutes Angebot für den Juni bekommen, planen sie ihre Tour-Route auch dementsprechend und kommen Mitte August nicht nochmals in der Schweiz vorbei. Darauf habe ich, und auch 20'000 bis 30’000 Franken mehr Gage, keinen Einfluss. Auch wenn Geld eine weitere wichtige Rolle spielt. Dann kommt noch hinzu, dass sie vielleicht im Hallenstadion spielen möchten und sich die zwei Konzerte aufgrund der zeitlichen und räumlichen Nähe gegenseitig um die Ticketverkäufe konkurrieren würden. Auch nicht produktiv.

 

AK: Das heisst, Booking ist vor allem auch Glück und Zufall statt gute Verhandlungstechnik?

MS: Ja, um wirklich etwas beeinflussen zu können, ist mein Booking-Portemonnaie zu klein. Von dem her ist es Glück und auch viel Durchhaltevermögen, stets dranzubleiben und immer wieder Interesse zu signalisieren. Wenn es nächstes Jahr nicht klappt mit The National, dann vielleicht zum 50. Jubiläum. Manchmal brauchen Sachen einfach länger.

 

AK: Hast du persönlich viel Kontakt mit den Bands selbst?

MS: Vor Ort tausche ich mich eigentlich nur mit dem*der Tourmanager*in aus, als Vertretung der Bands. Aber mit den Bands habe ich in der Regel wenig Kontakt. Ich suche ihn auch nicht. Mein persönliches Lebensglück hängt nicht davon ab, ob ich ihnen die Hand geschüttelt habe oder nicht. Und auch die Bands selbst, die jeden Tag an einem anderen Ort spielen, interessiert es vermutlich nur teils, wer der*die Booker*in ist.

 

AK: Was ist wichtiger bei der Auswahl des Programms, dein persönlicher Geschmack oder das potenzielle Interesse des Publikums?

MS: Es ist natürlich beides, aber in der Entscheidungsfindung primär der persönliche Geschmack. Ich habe aber auch noch bestimmte Kriterien zu erfüllen, wie Diversität oder verschiedene Genres. Manche davon gefallen mir mehr, andere weniger, dennoch versuche ich dort die Bands, welche ich am spannendsten finde, zu buchen.

 

AK: Wie würdest du denn den Musikgeschmack der Winti-Menschen beschreiben?

MS: Ich würde sagen er ist sehr vielfältig. Wenn ich mir das Publikum anschaue, sehe ich an jedem Abend Begeisterung für die Musik, die gespielt wird. Und oft sind es ja dieselben Menschen, die dort sind.

 

AK: Du hast vorhin das Kriterium Diversität angesprochen. Fällt es dir leicht ein möglichst diverses Programm zu gestalten oder erlebst du das als Herausforderung?

MS: Schwerfallen kann einem ja nur ein Ziel, das schwer zu erreichen ist. Wir haben zwar keine Quote, aber intern schon die Übereinkunft, dass wir versuchen ein ausgewogenes Programm zu gestalten. Wenn man vielfältig interessiert ist und die Augen offenhält, gelingt das. Beim Geschlecht empfand ich das Booking einfacher als bei den PoC-Acts (People of Color). Weil ich diese Acts weniger auf dem Schirm habe und sie nicht so präsent sind. Da bedarf es auf jeden Fall noch Arbeit auf meiner Seite. Es ist sicher mit Zusatzaufwand verbunden, aber ich verstehe es als mein Job, diesen zu betreiben.

 

AK: Und wie gehst du dabei vor, jetzt beispielsweise mehr Bands mit PoC-Personen zu finden?

MS: Es gibt Clubs und Festivals, die stärker sind in dem Bereich und die ich mir als Vorbilder nehmen kann. Ich versuche an solche Festivals zu gehen, zu schauen, wer die Acts dort sind und höre mir deren Musik an, wenn ich sie noch nicht kenne. Da geht es mir dann auch darum, meinen Blick zu schärfen. Dass ich mir Bands aus diesem Bereich mal mehr anhöre und die weisse-Jungs-Band zur Seite schiebe.

 

AK: Was bräuchte es, um ein superdiverses Programm zusammenzustellen?

MS: Mehr Geld würde sicher nicht schaden. Weil Diversität bei Musikveranstaltungen ein immer wichtigeres Thema wird und somit auch mehr Nachfrage entsteht. Das treibt den Preis hoch, gerade weil das Angebot noch nicht riesig ist.

 

AK: Wie nimmst du das Dilemma wahr, mehr Diversität auf den Bühnen fördern zu wollen und gleichzeitig Bands nicht nur wegen ihres Zugehörigkeitsmerkmals zu buchen?

MS: Das nehme ich eigentlich gar nicht als Dilemma wahr. Für mich kommt das Inhaltliche immer zuerst. Ich glaube, man macht niemandem einen Gefallen, wenn man eine schlechte Band auf die Bühne stellt, die irgendein Diversitätsmerkmal erfüllt. Damit hilft man auch dem Act nicht.

 

AK: Wie schaffst du es nach zehn Jahren immer noch aktuell zu bleiben und stets Neuentdeckungen auf die Bühne zu bringen?

MS: Ich glaube, das ist einfach, weil sich meine Musikhörgewohnheiten seit den Anfängen nicht gross verändert haben. Mich interessiert immer noch was neu rauskommt und welche Acts gerade spannend sind. Das ist wie eine Leidenschaft, ich höre wahnsinnig gerne und viel Musik. Von daher ist das gar nicht so ein Problem. Aber ich frage mich natürlich schon manchmal, ob es mit 42 Jahren nicht mal Zeit wäre für jemand Jüngeres. Andererseits sehe ich dann zum Beispiel Düx (Daniel Fontana), Booker der Bad Bonn Kilbi, welcher zehn Jahre älter ist als ich und noch viel mehr an neuen Musikschaffenden dran ist als ich. Von daher ist das Alter doch kein Kriterium. Ich denke, es geht eigentlich nur um die Leidenschaft und das Interesse, Neues zu pushen.

 

AK: Wie findest du denn all diese Newcomer*innen?

MS: Viel Musik hören den ganzen Tag. Und sich austauschen. Wie früher, als du in den Plattenladen gingst und dir anhörtest, was dir die*der Plattenladenbesitzer*in empfahl. So habe ich zwei, drei Leute, die auch in der Bookingbranche arbeiten und mir immer wieder Tipps geben. Das ist wie eine Person, die sich für Mode interessiert. Die muss sich auch immer wieder Kleidung und Menschen anschauen.

 

AK: Du machst das Booking ja seit 10 Jahren alleine – ist Booking eine Solo-Tätigkeit?

MS: Ich arbeite noch beim m4music Festival, dort sind wir zu zweit. Es hat beides Vor- und Nachteile. Es hilft, wenn sich die andere Person in einem Genre besser auskennt als du selbst. Aber gerade bei den Musikfestwochen müssen wir ja nicht mit jeder Show Tickets verkaufen, da kann ich meinem persönlichen Geschmack freien Lauf lassen. Jede*r Booker*in hat so die eigene Nische und entscheidet dann auch darin. Zu zweit würde das Programm, glaube ich, nie aus einem Guss sein. Und das ist sicher ein Vorteil.

 

AK: Könntest du es dir dennoch auch in einem Team vorstellen?

MS: Für Teilbereiche des Programms vielleicht. Für das Gesamtprogramm würde es mir jetzt nach 10 Jahren eher schwerfallen. Aber man soll ja nichts ausschliessen. Ich glaube es ist ein bisschen wie beim Fussball: Es gibt verschiedene Trainer*innen. Die einen sind für die Kondition und die anderen für die Technik zuständig, aber die Spielidee hat nur eine Person. Und ich glaube fast, dass das auch im Musikbereich nicht schlecht ist.

 

AK: Die gesamte Bookingbranche besteht praktisch nur aus weissen cis-Männern. Was denkst du, müsste sich ändern, damit es mehr FINTA-Booker*innen gäbe?

MS: Das weiss ich ehrlich gesagt nicht. Ich glaube es muss einfach durchlässiger werden. Da müsste man die Personen selbst fragen, was sie aktuell davon abhält, dass sie nicht so sichtbar sind. Ob wirklich vom Business her Barrieren vorhanden sind, ist für mich schwer zu sagen.

 

AK: Ich hab mal was von einem FINTA (Frauen und intergeschlechtliche, nonbinäre, agender Personen)-Booking-Praktikum munkeln gehört – was ist da dran?

MS: Das ist eine Idee, die bei uns im Büro rumschwirrt, aber noch nicht ausgereift ist. An sich fände ich es super. Denn es ist definitiv ein Problem. Es gibt viel zu wenige FINTA-Menschen im Booking-Bereich. Mir geht es aber weniger darum, ob jemand FINTA ist oder nicht. Bei mir stellt sich eher die Frage, ob ich dazu befähigt bin, eine*n Praktikant*in gut anzuleiten und welche Teilbereiche meines Jobs ohne viel Erfahrung sinnvoll erfüllt werden können. Also, dass das Praktikum nicht nur aus organisatorischen und administrativen Dingen wie Reisebuchungen und so weiter besteht, sondern auch inhaltlich einen Mehrwert bietet. Ich habe jetzt dann zwei Wochen Urlaub, da werde ich darüber nachdenken, wie das aussehen könnte. So, dass ich mich wohlfühle und damit es für eine*n potenzielle*n Praktikant*in auch cool werden kann.

 

Matthias Schlemmermeyer arbeitet seit 10 Jahren als Booker bei den Musikfestwochen und seit 2019 beim m4music.

Anna Kunz schreibt seit 5 Jahren fürs Coucou.

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