Auf ein Berocca mit David Egg

Die schönsten zwölf Tage des Jahres sind vorbei, machen wir also einen kleinen Rückblick.

AS: Die diesjährige Festivalausgabe der Musikfestwochen ist vorbei, machen wir also einen kleinen Rückblick. Hattet ihr vor dem Festival Schwierigkeiten, Helfer*innen zu finden? 

DE: Ja, zeitweise war das eine Herausforderung. Ich vermute, dass ein Teil der Helfer*innen in Bezug auf die ganze Durchführung des Festivals etwas skeptisch war und dass ein anderer Teil, der sonst vielleicht sechs oder sieben Schichten pro Jahr macht, dieses Jahr das eigentliche Festival in den Pärke auch als Besucher*in erleben wollte und sich deshalb vielleicht für zwei, drei Schichten angemeldet hat – das ist zumindest mein Bauchgefühl. Und möglicherweise haben viele zu dem Zeitpunkt, zu dem wir Helfende gesucht haben, gar noch nicht realisiert, dass Veranstaltungen wieder stattfinden. Wir waren dieses Jahr mit den Ankündigungen um einiges später dran als sonst – und dann musste alles relativ schnell gehen. Wir haben einen Aufruf auf Social Media gestartet, den die halbe Stadt geteilt hat. Das hat Wirkung gezeigt. Schlussendlich waren es erstaunlicherweise viele neue Gesichter, die mitgeholfen haben – mehr als wir erwartet hatten. 

 

AS: War es schwierig, die Bewilligungen für die Pärke zu erhalten?

DE: Nun ja, es war ein langwieriger Prozess – nicht unbedingt die Bewilligung selber, eher die ganze Konzeption. Wir haben im Juli 2020 eine Arbeitsgruppe gegründet und uns erstmals die Frage gestellt: Was, wenn wir nächstes Jahr wieder keine Musikfestwochen veranstalten können? Dann haben wir den ganzen Herbst versucht, Locations zu suchen, Szenarien durchzuspielen und uns Konzepte zu überlegen. Wir haben schon früh gewusst – oder eher geglaubt – dass es ein Zertifikat geben wird und man eine sichere Bubble schaffen muss, wenn man veranstalten will. Das geht in der Altstadt nicht, deshalb haben wir angefangen, mit Optionen zu planen. Was, wenn es eine Obergrenze von 1’000 Personen gibt? Wo machen wir dann das Festival und wie? Machen wir’s überhaupt, können wir uns das leisten? Was, wenn wir es mit fünf, sechs, sieben Locations versuchen? Was, wenn es eine Obergrenze von 5’000 Personen gibt? Zeitweise fuhren wir drei- oder viergleisig, das Spektrum reichte vom Clubfestival über diverse Openair-Standorte bis hin zur Idee, das Steibi-Setting exakt zu ersetzen – auch deshalb, weil wir zu diesem Zeitpunkt bereits grosse Bands gebucht hatten und entsprechend viele Besucher*innen gebraucht hätten, um das überhaupt zahlen zu können. Das war der grösste Teil der Arbeit: Mit vielen Institutionen und vielen Menschen sprechen, viele Abklärungen treffen, viele Velotouren machen, viel auf Google Maps herumfliegen. Schlussendlich haben wir entschieden, dass es dieses Jahr kein Altstadtfestival geben wird und uns auf ein Konzept festgelegt, welches wir vor dem Stadtrat präsentiert haben. Danach haben wir recht gezittert: Wir hatten die Präsentation im April, konnten aber bis Ende Mai nicht wirklich weiterarbeiten, weil wir erstens auf den Stadtrat und zweitens auf den Bundesrat warten mussten. Und dann, am 28. Mai, in einem Abstand von zwei Stunden, hat der Bundesrat die Entscheidungen getroffen, auf die wir gehofft hatten – keine Restriktionen, abgesehen vom Zertifikat, keine Sektoren, keine Obergrenzen, was die Besucher*innenanzahl angeht – und der Stadtrat hat unser Konzept bewilligt. Das war ein schöner Tag. Seither haben wir praktisch sieben Tage die Woche durchgearbeitet, um alles, was wir sonst in vier, fünf Monaten machen, in wenigen Wochen erledigen zu können. Die Budgetierung, die Finanzierungen, das Einholen von Partnerschaften, die Gastronomie, die gesamte Kommunikation, Neuerungen wie die Gratistickets und ein neues Einlasskonzept – und schlussendlich auch das Programm, das in Rekordzeit auf die Beine gestellt wurde. 

 

AS: Hattet ihr beim Programm einen Plan B, C, D?

DE: In der Regel hat Matthias [Schlemmermeyer, Programmverantwortlicher] bereits in normalen Jahren Alternativen in der Hinterhand. Dieses Mal war es so, dass wir – teilweise bereits im Winter – immer wieder Absagen erhalten haben von Bands, die bei uns gespielt hätten und im Laufe des ersten halben Jahres ihre Tourpläne verwarfen. Dazu kamen all die kurzfristigen Absagen wegen Reise- und Qurantäneauflagen, sowie Impffortschritten, vor allem aus Grossbritannien. Am Montag vor dem Festivalstart haben wir die letzte Absage erhalten – und auch diese konnte Matthias innerhalb von einer Woche wieder ausgleichen. Das ist nicht selbstverständlich, aber dank Matthias‘ Gespür und guten Kontakten ist es gelungen. Dazu kommt: Die Bands wollten unbedingt wieder spielen und waren daher auch flexibler als sonst.

 

AS: Wie seid ihr während des Festivals mit den Anwohner*innen zurechtgekommen?

DE: Mehrheitlich gut. Als klar war, dass das Festival in den Pärken stattfinden kann, mussten wir schnell handeln. Wir haben alle, die im Perimeter der Veranstaltungsorte wohnen, im Vorfeld brieflich kontaktiert, eine Online-Plattform für die Anwohner*innen aufgeschaltet, Info-Anlässe für jede Location veranstaltet, alle Anwohner*innen ans Pre-Opening eingeladen und eine Handynummer speziell für sie eingerichtet. Viele haben das begrüsst oder fanden es zumindest für ein Jahr okay. Andere waren anfänglich kritisch, sind aber an die Info-Anlässe gekommen oder haben den Dialog mit uns gesucht, was uns ermöglicht hat, viele Zweifel – etwa bezüglich Littering, Sauberkeit oder Partyvolk – auszumerzen. Speziell im Rychenbergpark gab es ein Thema: Die Anwohner*innen haben erzählt, dass sie seit anderthalb Jahren von Donnerstag bis Sonntag Parties im Park, Scherben, Müll und Musik aus Boomboxen bis in die frühen Morgenstunden ertragen müssen – was für das Quartier eine grosse Belastung sei. Wir haben aufgezeigt, dass wir eine Nachtwache haben werden, ein Reinigungskonzept und grundsätzlich wenig Abfall auf dem Gelände. Da haben viele auch festgestellt: «Okay, vielleicht ist es laut bis zehn Uhr abends, aber danach haben wir Ruhe». Der Rychenbergpark war noch nie so sauber: Wir sind nach den Konzerten auf Tour und haben am Morgen noch eine Runde gemacht. Und auch in den Gärten um die Pärke herum haben wir Dosen eingesammelt, was bei den Anwohner*innen gut angekommen ist. Dort, wo wir konnten, sind wir auf die Anliegen der Anwohner*innen eingegangen und haben Lösungen erarbeitet. Aber: Wir wollten uns programmatisch nicht verbiegen oder eine gemässigte Lautstärke einführen, nur weil wir an Orten waren, an denen sonst keine Konzerte stattfinden. Es gab aber auch einige Anwohnende, die die ganze Sache von Anfang an nicht gut gefunden haben. Von ihnen sind wenige mit ihren Anliegen direkt auf uns zugekommen – die meistens sind mit Anfragen und Beschwerden direkt zur Stadtverwaltung. Die Stadt Winterthur hat sich hierbei hinter uns gestellt und uns gegen aussen verteidigt, das war wertvoll für uns. 

 

AS: Und das Publikum hat mitgezogen?

DE: Sehr. Am ersten Abend war der Rychenbergpark um neun nach elf leer. Richtig diszipliniert also. Wir hatten wirklich ein tolles Publikum. Man spürte: Die Leute freuen sich, wieder an Konzerten dabei sein zu können. Das haben sie auch über alles andere gestellt und deshalb bei der Umsetzung der Massnahmen – Zertifikat, Ticket, keine Fremdgetränke etc. – konsequent mitgemacht. Wir mussten nur sehr wenige, die ohne Zertifikat da waren, nach Hause schicken und wir hatten fast keine Diskussionen bezüglich der Umstände an den Eingängen. Mit unserem Vorgehen sind wir auf sehr viel Akzeptanz und Verständnis gestossen. Das hat vieles erleichtert.

 

AS: Ungefähr in der Halbzeit vom Festival habt ihr auf Social Media einen Aufruf gestartet, weil ein grosser Teil der gebuchten Tickets nicht eingelöst wurde.

DE: Das war aus verschiedenen Gründen ärgerlich. Einerseits für uns finanziell, weil uns Gastro- und Kollekteneinnahmen entgangen sind – wenn 300 Personen nicht kommen, merkt man das deutlich. Andererseits auch für die Künstler*innen, die vor weniger Leuten spielten, als möglich gewesen wäre. Und drittens haben uns täglich Leute geschrieben, die eigentlich gerne ein Ticket haben wollten, aber keines mehr ergattern konnten. Das hat mich fast am meisten gestört: Dass Leute gekommen wären, teilweise sogar von weit her, aber nicht konnten, weil sie kein Ticket mehr gekriegt haben.

Ich selber finde das etwas unsolidarisch und ich versteh’s nicht ganz – wenn man sich am Dienstagabend ein Ticket reserviert, warum geht man dann am Mittwochabend nicht zur Veranstaltung? Aber ich glaube, das ist ein Auswuchs, den Gratisveranstaltungen mit sich bringen: «Es kostet mich ja nichts, also kann ich einfach nicht hingehen, schadet ja niemandem.» Da scheint ein Grundverständnis zu fehlen – was bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehbar ist. Das ist ein kleiner Wermutstropfen – aber es ist tatsächlich der Einzige. 

 

AS: Ihr habt auf Social Media Stellung dazu bezogen und eine Ticketbörse lanciert. Hat sich mit dem Aufruf was geändert?

DE: Mit dem Aufruf hat es sich deutlich gebessert. Wir waren leider etwas spät dran, im Nachhinein. Falls es wieder mal so etwas mit einer Gratisbuchung für Tickets gibt, müssten wir nochmals über die Bücher, wie wir das genau handhaben wollen. Auch hier haben wir uns mehrere Optionen überlegt: Zum Beispiel, dass man bis sieben Uhr vor Ort sein muss, oder dass ein Ticket fünf Franken kostet und man dafür am Eingang einen Konsumationsgutschein erhält. Aber wir fanden, dass es möglich sein muss, mit null Franken im Portemonnaie an die Musikfestwochen zu gehen. Nicht nur weil die Stadt von uns einfordert, dass es ein Gratisprogramm gibt – es ist auch uns sehr wichtig, dass es allen möglich ist, zu uns kommen zu können. Deshalb haben wir uns für die Version mit den Gratisticketbuchungen entschieden. Alle anderen Vorgehensweisen hätten irgendjemanden auf eine Art diskriminiert. Eine Abendkasse war auch kein Thema: Wir wollten vermeiden, dass 3'000 Leute auf gut Glück erscheinen, von denen dann die Hälfte enttäuscht ist, weil sie wieder nach Hause muss. Deshalb konnten wir trotz vieler No-Shows auch keine Leute ohne Ticket reinlassen.

 

AS: Und jetzt, eine Woche nach dem Festival, wie gehen die Abräum- und Aufräumarbeiten voran?

DE: Es geht schneller, als wir gedacht hatten. Wir haben im Nachhinein glücklicherweise noch zusätzliche Helfende gefunden. Zurzeit wird im Lager im Zeughaus Material sortiert. Aber auch hier im Büro sind wir noch am Nachbearbeiten. Die grosse Herausforderung jetzt ist es, Schlüsse zu ziehen aus diesem speziellen Jahr auf «normale» Festivalausgaben. Wir haben gezeigt – wir mussten zeigen – dass wir spontan und kurzfristig eine Riesenkiste, die dazu noch hübsch und liebevoll ist, aus dem Boden stampfen können. Wir hatten grosse Freude an den Locations und müssen wieder einen Plan haben, falls es nächsten Sommer immer noch eine Zertifikatpflicht gibt – was ich nicht ausschliesse. Wenn es so ist, werden wir wieder nicht in der Steibi veranstalten können und dann brauchen wir wieder eine andere Lösung. Den Quartieren wurde von der Stadt versprochen, dass die diesjährige Ausgabe eine einmalige Sache ist. Man kann natürlich auch die Gedanken etwas kreisen lassen und sich fragen, ob man etwas aus dieser Ausgabe beibehalten will. Der Wortlaut vieler Rückmeldungen war: Es war zwar anders, aber mindestens genauso lässig wie in der Altstadt. Im Grünen, am Boden sitzen, bessere Bühnensicht, mehr Platz – das stiess auf viel Anklang bei den Besucher*innen. Wir finden schon auch, dass wir zurückgehören in die Altstadt. Aber wenn man sich anschaut, welche einzigartige Atmosphäre der Büelpark hatte – da kann man sich schon überlegen, ob es andere Formate gibt, die interessant sein könnten für solche Orte.

 

AS: Jetzt, wo die Bühne und Buden abgebaut sind – wie sieht’s in den Pärken aus, haben die das gut überlebt?

DE: Der Büelpark sieht erstaunlich gut aus, aber im Rychenbergpark ist der Rasen im Bühnenbereich arg lädiert, auch wegen dem Regen am letzten Festivaltag. Wir kommen für die Instandsetzung auf, das haben wir budgetiert. Es wird aber weniger als gedacht, denn wir hatten fast zwölf Tage sonniges Wetter. Was nach diesem Sommer erstaunlich ist.

Auch sonst hatten wir unfassbares Glück in fast allen Belangen. Die Leute sind gekommen und waren richtig euphorisch, die Bands haben sich sehr dankbar gezeigt, und wir hatten keine nennenswerten Zwischenfälle. Vielleicht ist Glück nicht das richtige Wort – wir wurden belohnt für unseren Mut und Einsatz. Mit «wir» meine ich das Büroteam, den Vorstand, das Organisationskomitee, unsere über 900 freiwilligen Helfer*innen – aber auch unsere Partner*innen und die Stadt Winterthur. Alle, die mitgezogen haben, sind belohnt worden.

 

AS: Du wirkst zufrieden.

DE: Ja, bin ich. Wir alle. Wir hätten uns nie erträumt, dass es so schön werden würde. Aber wir sind auch sehr müde. 

 

AS: Und nächstes Jahr möchtet ihr auch wieder ein Festival veranstalten?

DE: Ja. Wenn möglich, gehen wir zurück in die Altstadt. Wenn nicht, werden wir wieder einen Plan B haben und der wird auch cool sein. Und egal, wie es aussieht – wir werden bestimmt versuchen, den Drive dieses Jahres und die guten Ideen, die an diesem Festival entstanden sind, mitzunehmen.ƒ

David Egg ist Co-Geschäftsleiter der Winterthurer Musikfestwochen und zuständig für die Kommunikation.

 

Aleks Sekanić ist Autorin und Redaktorin beim Coucou. Das Interview hat sie am 30. August im MFW-Büro geführt.

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