Authentizität und Alltäglichkeit

Authentizität und Alltäglichkeit

Wer sich auf das Gemurmel der Musikfestwochen einlässt, bei dem stimmt es Gedanken an. Zum Beispiel über Subkultur, die Sonntäglichkeit der Sonntage und die Unalltäglichkeit des Alltäglichen.

Am Himmel über der Zeltbühne schwebt der Halbmond. Wir sind in der Hälfte des Gratisprogramms angekommen. Es ist Sonntag, der 15. August.
 


Subkulties

Es ist immer interessant, an den Musikfestwochen umherzuschweifen und Leuten dabei zuzuhören, was sie miteinander bequatschen. Zuhören ist manchmal spannender als selbst ein Gespräch zu führen. Greifen wir eines der Themen auf, um das wir schon im Text von gestern gravitiert sind: Authentizität. Spitzt eure Ohren, während ihr im Park spaziert. Früher oder später werdet ihr an einem jener Gespräche vorbeikommen, das sich um die grossen Fragen im Leben dreht. Zum Beispiel um die Frage, ob «Musik eine Religion» ist, oder, wie der Sänger von Lalalar am Freitag behauptete, «die Vibrations uns verbinden», als ob Musik eine revolutionäre Kraft besässe. Dass dieses Gesprächsthema an den Musikfestwochen aufkommt, ist auch gar nicht so abwegig. Schwingt nicht bei jedem Festival ein wenig die Aura des Prototyps dieses Formats – namentlich: Woodstock –  mit? Betreten wir nicht beim Eingang zum Rychenbergpark die Schwelle zu jenem nostalgisch-utopischen Traum, in dem die rebellische, gesellschaftsverändernde Kraft von Musik noch besteht – kehren wir dann nicht kurz zurück in die 1960er-Jahre, beziehungsweise schwelgen im massenmedial vermittelten popkulturellen Mythos von dieser Zeit? Und fällt es uns nicht allzu leicht, zu ignorieren, dass die Musik damals mit realen gesellschaftlichen Bewegungen verflochten war, mit kollektiven Träumen … kollektiven Träumen und gesellschaftlichen Bewegungen, die es heute so nicht mehr gibt.

Was passiert, wenn die Band El Khat zwischen zwei Liedern einen ihrer Songtexte für das Publikum erklärt: «Es geht um einen Mann und eine Frau und ein Ding namens Polygamie». Sicher, hier sehen viele Leute wie Hippies aus, allerdings wie Hippies ohne Loverevolution; hier sehen viele Leute wie Punks aus, allerdings wie Punks mit einer durch den Sozialstaat abgesicherten «No Future»-Zukunft; wie Grunger ohne Heroin, wie Reggae mit CBD, Hip-Hop ohne Ghetto. Wie steht es also mit der Authentizität? Tragen wir alle nur noch Kostüme? Bestellt bei den Online-Shops, die ihren Umsatz durch jene Nische namens «Subkultur» generieren? Zusammengesammelt in Brockis oder gekauft in jenen Läden, die ausgefallene Klamotten verkaufen, durch die wir, mit welchen Mitteln auch immer – Nieten, spezielles Make-Up, Käpies, Pullover –, das Begehren stillen können, uns irgendeine Identität zusammenzustellen. «I’m all lost in the supermarket. I can no longer shop happily. I came in here for that special offer. A guaranteed personality.» Aber wenn man all diese Gedanken so zusammenclasht, dann tönt das doch schwer so, als wäre man enttäuscht von Subkulties aller Art. Um enttäuscht zu sein, muss man sich natürlich zuerst einmal täuschen. Das heisst also, man muss der Hoffnung anhängen, dass subkulturelle Kunst und politischer Fortschritt miteinander verbandelt sind. Eine anachronistische Vorstellung.

Alltäglichkeit

Aber die Musikfestwochen sind im Grunde keine Wiederholung von Woodstock. Schliesslich handelt es sich um ein Stadtfest. Man kommt nicht mit Zelt und Schlafsack an die Musikfestwochen, warum auch? Irgendwer hat notfalls immer einen Platz auf dem Sofa frei. Man befindet sich nicht an einem abgekapselten Ort, den man nur für das Festival aufsucht. Mit den Musikfestwochen feiert die Stadt sich selbst. Die Bewohner*innen der Stadt feiern, dass sie in der Stadt leben, in der sie leben. Der Ort, an dem man feiert, ist das Zuhause, an dem man sich auch ausserhalb der fünften Jahreszeiten umtreibt. Die Konzertorte sind von überall in höchstens einer halben Stunde erreichbar. Die Uhrzeiten, an denen die Bands spielen, sind auf die verbreiteten Arbeitszeiten abgestimmt. Der Wunsch ist da, dass die Winterthurer*innen hierher kommen. Hier, wo ihnen Winterthurer Kunst (lokale Musik, Bilder, Eydus) präsentiert wird. 

Sonntäglichkeit

Sonntagabende … und ihre bannhafte Wirkung: Irgendwie sind die Leute ruhiger, träger, müder – müde vom Wochenende? Es liegt weniger Feierstimmung in der Luft, weniger Knistern. Ist der Sonntag als Wochenabschluss derart einschüchternd? Und wenn ja – warum eigentlich? Da gäbe es doch einschüchternderes – zum Beispiel die Tatsache, dass wir letzten Endes nur auf einem Erdklumpen durch das angeblich unendliche Nichts kreisen. Begleitet von einem mal runden, mal halbrunden, mal sicheligen Satelliten, von dem wir bis heute nicht genau sagen können, wie wir zu ihm gekommen sind. Und während der Klumpen sich um sich selbst dreht, umkreist er eine brennende Kugel, eine kosmische Katastrophe, die wir uns angewöhnt haben, Sonne zu nennen. So wie wir uns angewöhnt haben, die dunklere Hälfte der Zeit Nacht und die hellere Tag zu nennen – und diese wiederum einzeln zu etikettieren, um sie in Siebnerreihen zu gliedern – Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag … Und diese Siebenerreihen summieren wir auf zu grösseren Einheiten (Monaten, Jahren, Jahrzehnten) wobei wir unsere mathematischen Beschreibungen des kosmischen Zyklus alle paar Jahre durch den 29. Februar ausbessern müssen. Aber um das geht’s jetzt eigentlich gar nicht: Am Samstag feiert man bis zum Kotzen, tanzt bis zur Ohnmacht, ergibt sich dem Delirium, bis man in die Harmonie der Sphären eingestimmt ist – warum? Warum halten wir uns an diesen Ritualen fest? Während der französischen Revolution hat man die Uhren zerschossen, zwischen 1972 und 1805 die Kalenderzählung im Dezimalsystem etabliert und die Tage nach Tieren und Pflanzen benannt. Unsere Wochentage sind eine Illusion. Aber diese Illusion bestimmt unsere Realität – selbst in der fünften Jahreszeit.




PS.: Das Zitat stammt aus dem 1979 (!) erschienen «Lost in the Supermarket» von The Clash.

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