Die Musikfestwochenstadt

Die Musikfestwochenstadt

Ursprünglich hätte uns heute Abend ein Post-Rock, -Punk-Programm erwartet, aber …

Ursprünglich hätte uns heute Abend ein Post-Rock, -Punk-Programm erwartet: Crack Cloud und Black Country, New Road. Aufgrund der Pandemie sind beide Bands ausgefallen. Da das Programm heute Abend also kurzfristiger zusammengestellt wurde, wirkt es etwas wirr. 
Den Auftakt macht eine Band, die sich nicht einordnen lässt, auf sie folgt Singer-Songwriter-Folk auf der Startrampe, dann beschliesst Live-Techno den Konzertabend. Die Bandzusammenstellung wirkt zufällig, anders als die sonst so liebevoll programmatisch geordneten Abende, die spezifisch für die Musikfestwochen sind. Denn anders als an den monogenerischen Festivals – an dem man nur Rockbands, Hip-Hop-Crews, Pop-Gruppen oder Jazz-Ensembles zu hören bekommt – zeichnen sich die Musikfestwochen dadurch aus, dass uns an jedem Abend ein in sich stimmig kuratiertes Programm erwartet: Es gibt den Rock-, Folk-, Hip-Hop-Abend, die Winti-Night etc. Der Grund dafür lässt sich bereits im Namen des Stadtfestes ablesen: Musikfest … wochen, Zeit ist genügend da. Was der Name allerdings verschweigt, ist der Ort des Geschehens – die Stadt. Das Programm der Musikfestwochen spricht nicht die Fangemeinde eines Genres an, sondern die Bewohner*innen eines Ortes. Und da die Stadtbewohner*innen vielfältig sind, fällt das Programm entsprechend bunt aus.
Die sonstige Altstadt-Edition der Musikfestwochen unterscheidet sich von der diesjährigen Park-Edition dadurch, dass sich nun die Fans der verschiedenen Genres nicht mehr zwischen Steibi und Kirchplatz über den Weg laufen – sie pilgern zu verschiedenen Parks, die gefühlte Unendlichkeiten voneinander entfernt liegen. Und um vom einen zum anderen zu kommen, müsste man sich der Leere der Steinberggasse aussetzen, die zwischen ihnen liegt, und würde vielleicht Gefahr laufen, nostalgisch zu werden.
Der heutige Abend erinnert mit seinem durchmischten Programm an die Altstadt-Edition – obwohl er im Park stattfindet. Leute sind mit anderen konfrontiert, die ihre musikalischen Vorlieben nicht teilen (oder nicht verstehen).
Die aufgrund der Pandemie eher kurzfristig zusammengestellte Dramaturgie des 16. August wirkt, wie bereits erwähnt, etwas wirr: Winterthurer Undefinierbarkeit trifft auf Stadtzürcher Folk, trifft auf Wiener Live-Techno. Die lokale Band Rue des Cascades eröffnet den Abend mit einem meditativen 40-Minuten-Song, in dem sie auf verschiedene Genres referieren, ohne sich dabei einem einzelnen zu verschreiben. Auffallend sind Wiederholungen von einzelnen Sätzen und Bildern – Heimsuchung ist ein wiederkehrendes Thema. Unterstützt wird die Band zuerst von den zusätzlichen Vocals von Omar Hetata (Soldat Hans) und dann von Omar Fra (Death of a Cheerleader), der mit Synthies eine weitere Soundebene hineinbringt. 
Nachdem die Bühnenmoderatorin Livia Kozma das Publikum dazu auffordert, sich leicht nach rechts zu drehen, beginnt ebendort auf der Startrampe Rainstorm Society zu spielen – die Gitarrenmelodien und die Stimme erinnern ein wenig an Jack Johnson und Bob Dylan. Eine Menschentraube bildet sich vor der Startrampe, die Sonne geht unter, es wird mitgewippt und geschunkelt. Menschen nehmen Verlegenheitshaltungen ein – siehe Text vom 12. August. 
Nachdem die Akustikgitarre verstummt ist, die Menschen ihren Verlegenheitshaltungen entkommen sind, sich Bier geholt haben und entspannt miteinander reden, beginnen «BOOM BOOM BOOM BOOM BOOM BOOM»-Geräusche in ihre Mägen zu boxen. Die kleine Wiesenneige unterhalb des Konservatoriums leert und die Menschen ballen sich vor der Bühne. Die Musik lockt an, reisst mit, auf der Bühne verschwinden Electro Guzzi in Licht und Nebel. Der monotone Bass drückt weiterhin in den Eingeweiden. Menschen klagen über Unwohlsein, Schwindel, Ohrensausen, Epilepsie-Ängste, vibrierende Nasen. Die Ansage kurz vor dem letzten Lied bestätigt, dass sich da kein Technoroboter auf der Bühne befindet, sondern drei Wiener, die sich freuen, «wieder amal aus Österreich raus zu kommen. Joa. Danke. Tanzt weiter!» 

Warum tun Menschen sich das an, könnte man sich fragen. Nun – es gibt auch Menschen, die hören Noise, Schranz, Deathcore. Es gibt Menschen, die schauen Horrorfilme, die ihnen den Atem abschnüren und ihre Muskeln verkrampfen. Und es gibt Menschen, die schauen Marina Abramović dabei zu, wie sie sich selbst verletzt. Warum müssen Menschen ihre Körper immer wieder in die Grauzone der Schmerzgrenze treiben, um sich daran zu erinnern, dass sie leben? Mit dieser Frage endete der 6. Tag der 46. Winterthurer Musikfestwochen. 

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